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75 Jahre Menschenrechte – und was hat es gebracht? Ein Blick auf die Weltlage

Ein Meilenstein der Menschheitsgeschichte: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde vor 75 Jahren verabschiedet. Und nun? Kriege, Konflikte, Elend. Was hat es also gebracht – und wo lauert Gefahr?

Bomben in der Ukraine, ein Terrorüberfall auf Israel, Raketenangriffe im Gazastreifen und viele weitere brutale Kämpfe im Sudan, in Myanmar und anderen Ländern: Was ist los mit der Welt?

Vor 75 Jahren, am 10. Dezember 1948, verabschiedeten die damaligen Mitglieder der gerade gegründeten Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Die 30 Artikel sollen jeden Menschen auf der Welt vor willkürlicher staatlicher Gewalt schützen. Wie die Weltlage zeigt, gelingt das bislang kaum.

«Nicht die Menschenrechte versagen», sagte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, gerade in Genf. «Es ist die zynische Missachtung der Menschenrechte und die Nichtbeachtung von Warnungen zu den Menschenrechten, die uns hierher gebracht haben.»

«Die Rechtsnormen übersetzen sich nicht von selbst in die Realität», erklärt der Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin, Wolfgang Kaleck. Und die Realität der letzten 75 Jahre sind Kriege und Massaker, wie der Menschenrechtsanwalt der dpa sagt. «Immerhin haben wir die Menschenrechtserklärung.» Sie sei unverzichtbar.

Die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Beate Rudolf, sagt: «Die Idee der Menschenrechte ist heute so wirkmächtig wie vor 75 Jahren. Der Gedanke, dass jeder Mensch allein aufgrund seines Menschseins Rechte hat, überall und jederzeit, beflügelt Menschen und beschränkt Staaten.»

Auf Basis der Menschenrechtserklärung sind neun internationale Verträge entstanden, die Rechte konkret festschreiben, darunter etwa das Übereinkommen über die Rechte der Kinder. «Nur Papier reicht natürlich nicht, sie müssen umgesetzt werden, dazu braucht es Druck, von der Zivilgesellschaft», sagt Kenneth Roth, bis 2022 rund 20 Jahre Chef der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, heute Dozent in Princeton. Herausforderungen bleiben. Drei Schlaglichter:

Kriege, Konflikte, Menschenrechte

«Seit dem sogenannten «Krieg gegen den Terror» ab 2001 gab es eine dramatische Erosion des Völkerrechts und der Menschenrechte», sagt Kaleck. Er bezieht sich auf die US-Reaktion auf die Terroranschläge in New York und Washington mit dem Einsturz der Türme des World Trade Centers. Die USA liessen Terrorverdächtige in ein Gefangenenlager nach Guantanamo bringen, wo sie jahrelang ohne Prozess festgehalten wurden. US-Soldaten folterten im Irak. Nichts davon sei international geahndet worden, sagt Kaleck.

Die Geschehnisse um den 11. September, mit dem Terror-Angriff auf das World Trade Center in New York (Bild), haben zu einer Erosion des Völkerrechts geführt, sagt Human Rights Watch.
Spencer Platt / Getty Images

«Gaza wird zur Probe aufs Exempel, ob der Westen es mit dem Völkerrecht und den Menschenrechten ernst meint», sagt er. Schon vor den jüngsten israelischen Angriffen im Gazastreifen als Reaktion auf den Terrorüberfall vom 7. Oktober seien westliche Länder tatenlos geblieben. «Wenn man sich wie die deutsche Regierung dafür einsetzt, dass Israel sich nicht beim Internationalen Strafgerichtshof für den illegalen Siedlungsbau verantworten muss, sondern mit dem Finger nur auf die zeigt, die weit weg sind, in Afrika – das funktioniert nicht mehr.»

Solche Doppelstandards würden im Rest der Welt zu Recht angeprangert. «Im Westen schaufelt man sich sein eigenes Grab, indem man zulässt, dass die rechtlichen Prinzipien erodieren. Wenn das Vertrauen wegbricht, dass das Recht auf alle gleichermassen angewandt wird, wird es nur noch darum gehen, wer der – militärisch – Stärkere ist. Für Europa ist das ganz schlecht, denn es ist unter anderem wirtschaftlich davon abhängig, dass es verlässliche Handelsbeziehungen gibt.

Chinas Umgang mit Menschenrechten

Für Menschenrechtler kommt die grösste Bedrohung der Menschenrechte aus China. «Sie wollen das ganze Konzept untergraben», sagt Roth. «Für Diktatoren ist das attraktiv.» China pocht zum Beispiel im UN-Menschenrechtsrat darauf, dass jedes Land einen «eigenen Weg der Menschenrechtsentwicklung» wählen darf, unter Berücksichtigung des kulturellen Erbes und der nationalen Bedingungen.

«China will, dass nur das Bruttoinlandsprodukt zählt, das Wachstum der Wirtschaft», sagt Roth. Es nennt dies kollektive Rechte, etwa auf ein Leben ohne Armut. Es hat den Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit festschreibt, nie ratifiziert.

China versuche mit finanziellem Druck, bei Abstimmungen in den Vereinten Nationen Länder auf seine Seite zu ziehen, sagt Roth. Peking gelang es 2022 im Menschenrechtsrat mit den Stimmen anderer, etwa Kuba, Venezuela und Sudan, eine Debatte über einen Bericht des UN-Menschenrechtsbüros zu verhindern, der die Unterdrückung der Uiguren und anderen muslimischen Minderheiten in Xinjiang beschreibt.

Roth glaubt aber nicht, dass die Strategie langfristig Erfolg hat. Viele Länder, die im Seidenstrassenprojekt von Chinas Geld profitierten und in den Vereinten Nationen mit Peking abstimmten, sässen heute in einer Schuldenfalle und seien ernüchtert.

Menschenrechte und Migration

«Die Rolle der Menschenrechte in zeitgenössischem Gesellschaften hat sich geändert», sagt die Konfliktforscherin Susanne Buckley-Zistel von der Philipp-Universität Marburg der dpa. «Früher, in den 70er und 80er Jahren, wurde auf autoritäre Regime geschaut, es ging um Folter, Totalitarismus, politische Gefangene in anderen Ländern. Jetzt werden sie mehr verwendet, um die Lage im eigenen Land anzusprechen.»

Buckley-Zistel untersucht in einem Projekt mit anderen Instituten die Rolle der Menschenrechte im Kontext Migration. «Wir sprechen in der Migrationsdebatte von einer Vermenschenrechtlichung», sagt sie. Migrantinnen und Migranten und Organisationen, die sie unterstützten, nähmen stärker Bezug auf Menschenrechte, um ihre Interessen zu artikulieren.

«Dazu gehört auch, das Bewusstsein von Geflüchteten zu fördern, dass sie sich etwa in Deutschland gegen Menschenrechtsverletzungen, die ihnen anderswo widerfahren sind, zur Wehr setzen können», sagt Buckley-Zistel. «So kam es etwa in Koblenz 2020 zum weltweit ersten Prozess wegen Staatsfolter in Syrien.»