Nach 180 Jahren Vereinsgeschichte verstummen die Stimmen des Männerchors Strengelbach für immer
Jubiläumsschriften, Festführer, Programme und Fotobücher liegen auf dem Tisch. Dokumente, die von einem reichen Vereinsleben zeugen. Doch die Stimmung bei den vier Herren, die am Tisch Platz genommen haben, ist eher wehmütig. Denn der Männerchor Strengelbach – der älteste Verein des Dorfes – hat sich an seiner kürzlich durchgeführten Generalversammlung aufgelöst. Nach 180 Jahren sind die Stimmen endgültig verstummt. Doch heute wollen die langjährigen Sänger – zusammen bringen sie es auf 128 Jahre Vereinszugehörigkeit – nochmals auf die Geschichte des Männerchors zurückblicken. Eine Geschichte, die sie in den letzten Jahren massgeblich mitgestaltet haben. 44 Jahre lang, davon 28 Jahre als Präsident, wirkte der 85-jährige Lothar Jung im Männerchor mit. Ebenfalls um den Tisch sitzen drei der letzten Vorstandsmitglieder: Der 80-jährige Präsident Hansueli Döbeli war 17 Jahre im Verein, der 79-jährige Vizepräsident Ernst Flückiger sogar 37 Jahre und der 62-jährige Aktuar Roland Schwendener auch schon 30 Jahre.
Das hohe Alter der Anwesenden ist ein deutliches Zeichen: Der Verein war mit einem Durchschnittsalter von 72 Jahren überaltert. Junge Mitglieder zu finden war kaum mehr möglich. «Der Entscheid, den Verein aufzulösen», sagt denn auch Lothar Jung, «hat mir zwar sehr weh getan, aber er war unausweichlich.» Denn dem Männerchor seien die Mitglieder richtiggehend «davongestorben», führt er aus und verweist auf das Jahr 1992. «Als der Verein seinen 150. Geburtstag feierte, zählte er noch 36 Sänger», sagt er, «jetzt waren es gerade noch 14.»
Schiessen, turnen, musizieren und singen
Doch zuerst ein Blick zurück in die Gründerjahre des Männerchors. In der Schweiz wurden im 19. Jahrhundert etwa 30 000 Vereine gegründet. Weil ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erste Fabrikgesetze die Arbeitszeit regelten, konnte erstmals ein gewisses «Freizeitbewusstsein» aufkommen. Wobei «Freizeit» richtig verstanden werden muss: Die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit lag immer noch bei 12 bis 14 Stunden – bei einer Sechstagewoche wohlverstanden. Infolgedessen bildeten sich im ganzen Land Vereine – vorwiegend Schützen- und Turnvereine sowie Musikgesellschaften und Gesangsvereine.
Auch der Männerchor Strengelbach wurde in dieser Zeit gegründet und er gilt mit seinem Gründungsjahr 1842 als ältester Verein im Dorf. Wobei sein Gründungsjahr nicht verbürgt ist, denn die Gründungsdokumente sind verloren gegangen. Die ältesten archivierten Unterlagen stammen aus dem Jahr 1873. Verbürgt ist aber in einem Protokoll des Aargauischen Kantonalgesangsvereins vom Juli 1842, dass neben 41 weiteren Gesangsvereinen auch der Männerchor Strengelbach bestand. Aktenkundig ist auch, dass der Chor 1845 in Lenzburg, 1846 in Zofingen und 1865 in Baden an Gesangsfesten auftrat.
Der Verein erlebte in seiner langen Geschichte Höhen und Tiefen. Zählte er 1873 18 Mitglieder, so waren es 1881 schon 33. Doch kurze Zeit später, im September 1886, sollte der Verein mangels gesangsfreudiger Mitglieder aufgelöst werden. Doch bereits im November glückte auf Initiative des damaligen Gemeindeschreibers ein Neustart mit zwölf Mitgliedern. Sorgen über den Fortbestand des Chors machte man sich jeweils auch in den Kriegsjahren. So brach die Vereinstätigkeit zu Beginn des 2. Weltkriegs praktisch vollständig zusammen. Nach fast 50-jähriger Tätigkeit hatte Fritz Nöthiger den Taktstock niedergelegt, doch trotzdem wurde 1942 eine schlichte 100-Jahr-Jubiläumsfeier mit Fahnenweihe durchgeführt.
150-Jahr-Jubiläum mit den Schützen gefeiert
Feiern konnte der Verein in jüngerer Zeit immer wieder. In besonders guter Erinnerung ist Lothar Jung das grosse Geburtstagsfest 1992 geblieben. «Damals feierten gleich zwei Dorfvereine ihren Geburtstag – mit einem dreitägigen gemeinsamen Fest», führt er aus. Während der Männerchor sein 150-Jahr-Jubiläum feierte, beging die Schützengesellschaft gleichzeitig ihren 125. Geburtstag. Grosser Unterhaltungsabend am Freitag, Jubiläumsfeier und Ehrungen, anschliessend Abendunterhaltung und Tanz am Samstag, Buurezmorge mit Musig-Stubete am Sonntag. «Man hätte ja nie geglaubt, dass das klappen könnte», staunt Lothar Jung heute noch. «Mit grossem Optimismus blicken wir in die Zukunft», liess der Männerchor damals in der gemeinsam verfassten Festschrift der beiden Vereine verlauten.
Ein Optimismus, der bereits 20 Jahre später weitgehend verflogen war, als der Verein seinen 170. Geburtstag unter Mitwirkung des Männerchors Brittnau in der reformierten Kirche Strengelbach feierte. «Wir haben 170 Jahre Männerchor gefeiert, weil wir nicht wussten, ob wir den 175. Geburtstag noch erleben würden», betont Roland Schwendener. Mit einem Jubiläumskonzert in der reformierten Kirche wurde der 175. Geburtstag am 17. September 2017 doch noch gefeiert – unter Mitwirkung des Frauenchors, der Singspatzen und des Mittelstufen-Kinderchors Strengelbach sowie einer Ausstellung im «Graberhaus».
Kein Vereinsleben mehr in der Coronazeit
«Wir haben in Strengelbach viel zu einem aktiven Dorfleben beitragen und auch viel für die Gemeinde getan», ist sich Lothar Jung sicher. Er erinnert in diesem Zusammenhang etwa an die Bundesfeier, welche der Männerchor während etwa 20 Jahren organisierte und dabei die beliebten Älplermagronen servierte, oder an den gut besuchten Raclette-Abend, den der Verein viele Jahre jeweils im November durchführte.
2019 startete der Männerchor mit einer grösseren Werbeaktion einen letzten Versuch, neue Mitglieder zu gewinnen. Ohne Erfolg. Dann kam Corona. «Corona hat allen kulturell tätigen Vereinen stark zugesetzt», hält Hansueli Döbeli, der letzte Präsident des Männerchors, unmissverständlich fest. Auch dem Männerchor Strengelbach, der zu Beginn der Pandemie noch regelmässige Treffen am Stammtisch und eine weitere Sängerreise plante. «Es hat genau noch ein Treffen stattgefunden – dann war Ende Feuer», bedauert Lothar Jung. Nach zwei Jahren ohne Treffen lösten 13 aktive Sänger an der 180. und letzten Generalversammlung den Verein endgültig auf. Ein regelmässiger Treff am Stammtisch soll bleiben – ein Ausdruck dafür, dass das Gesellschaftliche beim Verein ebenso wichtig war wie das gemeinsame Singen. «Vielleicht erklingt auch da wieder einmal ein schönes Lied», hofft Roland Schwendener, «denn Singen tut doch einfach gut.»