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Das neue Wir-Gefühl: Was die Schweizer Reaktion auf Xhakas Provokationen über unsere Identifikation mit der Nati aussagt

Am Dienstag ab 20 Uhr kann die Schweiz WM-Geschichte schreiben. Die Herzen der Bevölkerung hat sie schon jetzt gewonnen. Mit typisch helvetischen Werten – und einem Trainer, der sie lebt. Ein Kommentar.

Während Deutschland die Entfremdung von seiner Nationalmannschaft debattiert, erlebt das Schweizer Team eine Zuneigung wie lange nicht mehr, wie zuletzt vielleicht 2006, bei der deutschen Sommermärchen-WM. An den Weltmeisterschaften dazwischen fremdelte die Bevölkerung mit der Nati. Jetzt, wo es bei uns draussen gegen null Grad geht, erreicht und erwärmt die Nati die Herzen der Schweizerinnen und Schweizer wieder. Ausgerechnet an diesem Turnier von Katar, das nie dorthin hätte vergeben werden dürfen.

Die guten Vibes dürften nicht so schnell verfliegen, auch dann nicht, wenn die Nati heute im Achtelfinal gegen Portugal ausscheidet. Und wenn sie weiterkommt? Dann wird Euphorie herrschen – und eine andere Jahreszahl als Vergleich herangezogen werden: 1954, als die Schweiz im eigenen Land letztmals den Viertelfinal erreichte. Diesmal wäre der Erfolg noch höher einzuschätzen, denn damals kam nach der Gruppenphase direkt der Viertelfinal.

Wie hat das Team dieses Wir-Gefühl geschaffen?

Die Schweiz ist eine Leistungsgesellschaft, manchmal gnadenlos, und von Einwanderern und ihren Kindern erwartet sie immer noch einen Tick mehr. Dass die Nati dank den Secondos an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen hat, wusste man schon immer, aber noch nie war es so offensichtlich wie an der Weltmeisterschaft 2022.

Granit Xhaka und Manuel Akanji sind Teamstützen bei Arsenal und Manchester City, den aktuell stärksten Mannschaften in der besten Liga der Welt. Solchen Leistungsträgern zollt man hier Respekt. Einem Xherdan Shaqiri ebenso, zumal der 111-fache Internationale für einen weiteren Schweizer Wert steht: Loyalität und Konstanz. Er schiesst seine Tore bereits an der dritten WM.

Grossen Anteil an der Re-Identifikation mit der Nationalmannschaft hat Trainer Murat Yakin – der erste Secondo in diesem Amt. War das Team unter Köbi Kuhn brav, unter Ottmar Hitzfeld unterkühlt und unter Vladimir Petkovic oft polarisiert, so ist es nun leidenschaftlich und spielt mal kühn, mal kontrolliert.

Yakin versteht es, aus Gegensätzen, die einst als «Balkangraben» Schlagzeilen machten, Energie zu schöpfen. Er erhöht die Betriebstemperatur der Mannschaft im richtigen Moment, aber nicht zu sehr. Gut erkennbar war das beim Spiel gegen Serbien, als die Schweiz nach dem 1:2-Rückstand ungeahnte Kräfte freisetzte und das Spiel zum 3:2 drehte.

Viel zu reden gaben die serbischen Provokationen, auf die Xhaka seinerseits mit Provokationen antwortete, doch diese sind weniger interessant als die veränderte Reaktion der Schweizer Öffentlichkeit. Anders als 2018 beim Doppeladler gab es diesmal keinen Shitstorm gegen Xhaka, im Gegenteil, das Verständnis überwog. Man lässt dieser Nati und ihren Spielern auch mal etwas durchgehen, so stark wuchs die Zuneigung. Oder ist das schon Liebe?