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Nationalratspräsident Martin Candinas reagiert auf Kritik an der Behindertensession: «Sie ist ein exklusiver Anlass für eine inklusivere Zukunft»

Der St.Galler Autor und Rollstuhlfahrer Christoph Keller schreibt seit über zwei Jahren in dieser Zeitung offene Briefe an ausgewählte Personen – immer mit dem Ziel, die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung im öffentlichen Dialog zu erhöhen. Vergangene Woche  wandte er sich an Nationalratspräsident Martin Candinas. Hier nun dessen Antwort.

Am 16. März schrieb der St.Galler Autor Christoph Keller an Nationalratspräsident Martin Candinas. Anlass war die anstehende Behindertensession im Nationalrat vom 24. März. Laut Keller sendet diese das falsche Signal, nämlich jenes der Ausgrenzung. Nun antwortet ihm Martin Candinas: Die Behindertensession grenze nicht aus, sie stelle die Menschen ins Zentrum, die sonst zu oft an den Rand gedrängt würden.

Antwortschreiben von Martin Candinas

Sehr geehrter Herr Keller

Herzlichen Dank für Ihre kritische Auseinandersetzung mit der Behindertensession, für Ihr beigelegtes Buch und die guten Wünsche.

Sie befürchten, dass die Resolution, die an der Behindertensession verabschiedet wird, in der Schublade verstaubt. Ich werde die Resolution als Nationalratspräsident gemeinsam mit der Ständeratspräsidentin entgegennehmen und umgehend allen Ratsmitgliedern offiziell übergeben. Die Resolution kann ein wichtiges Fundament für die politische Arbeit der nächsten Jahre bilden. Dass wir weiterhin gemeinsam einen Effort leisten müssen, ist selbstverständlich.

Sie schreiben auch, dass die Behindertensession das falsche Signal ist. Da möchte ich Ihnen widersprechen. Die Behindertensession grenzt nicht aus, sie stellt die Menschen ins Zentrum, die sonst zu oft an den Rand gedrängt werden.

Sie ist ein exklusiver Anlass für eine inklusivere Zukunft. Wie bei der Frauen- oder der Jugendsession gehört an der Behindertensession jenen Menschen die Bühne, um die es in dieser Session geht: die Menschen mit Behinderungen. Ich habe alle Mitglieder des National- und Ständerats eingeladen, von der Tribüne oder Wandelhalle aus live zuzuhören und mit den Gästen und Parlamentarierinnen und Parlamentariern der Behindertensession danach ins Gespräch zu kommen.

Sie möchten, dass gemischte Sessionen folgen werden – das ist sicher, und zwar reguläre. Dank Nationalrat Christian Lohr ist jede Session eine gemischte Session. An der Behindertensession wollen wir aber aufzeigen, dass das Verhältnis von Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen im Parlament nicht die tatsächliche Schweizer Bevölkerung widerspiegelt. Damit die Vertretung von Menschen mit Behinderungen in der Politik repräsentativ für die Gesamtbevölkerung wird, braucht es uns alle: die Gesellschaft, die diese Anliegen und Menschen sieht, die Politik, die bestehende Hindernisse abschafft, und Menschen mit Behinderungen, die sich dieser Herausforderung stellen.

Wenn wir gemeinsam daran arbeiten, schaffen wir es, dass mehr Menschen mit Behinderungen in den Parlamenten auf allen Ebenen Platz nehmen dürfen. «Dürfen» ist in diesem Kontext nicht herablassend. Auch ich darf im Nationalrat Platz nehmen, weil es mir die Stimmbevölkerung erlaubt. Ich darf das Präsidium übernehmen, weil meine Nationalratskolleginnen und -kollegen mich gewählt haben. Ein Privileg, das ich dieses Jahr nutzen darf. Ein Privileg, welches mich motiviert hat, zur ersten Behindertensession der Schweiz einzuladen.

Ich danke Ihnen für Ihre Überlegungen und freue mich auf eine erfolgreiche Behindertensession und auf die nächsten Schritte für mehr Inklusion in der Schweiz.

Mit freundlichen Grüssen

Martin Candinas, Nationalratspräsident 2022/2023

Brief von Christoph Keller vom 16. März

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Candinas

Am 24. März ist es so weit: 44 Menschen mit Behinderungen dürfen im Nationalrat eine Behindertensession abhalten. 44, weil diese Zahl gemessen am Nationalrat den 22 Prozent von behinderten Menschen in der Schweiz entspricht. Diese ist kürzlich von 20 auf 22 Prozent angestiegen, was ihr Anliegen noch dringender macht. Diese 44 wurden im vergangenen Dezember in einer Art Popularitätswettbewerb ermittelt: Wir haben darüber abgestimmt, wen wir für einen halben Tag nach Bern schicken wollen.

Ich habe mich dieser Abstimmung nicht gestellt, weil ich an dieser Veranstaltung nicht dabei sein will. Ich halte sie für bestenfalls eine halb gute Sache. Die gute Hälfte ist, dass Behinderung national sichtbar gemacht wird, die schlechte, dass Behinderung wie fast immer nicht im «normalen» Kontext unseres Landes, sondern bewusst gesondert gezeigt wird, in diesem Fall in Abwesenheit des 98%ig nicht behinderten Nationalrats.

Das sendet das falsche Signal, nämlich jenes der Ausgrenzung. So werden behinderte Menschen segregiert, nicht integriert.

44 behinderte Menschen in einem ansonsten leeren Nationalratssaal taugt nicht als Symbol der Inklusion. Entlarvend in diesem Zusammenhang ist das Verb «dürfen». 44 von uns dürfen an diesem halben Tag ins Parlament. Was geschieht mit uns an allen anderen Tagen?

Schreiben Sie mir, lieber Herr Candinas, dass ich falsch liege, dass die diskutierten Anliegen dann auch in die anstehende Revision des Behindertengesetzes einfliessen werden (obwohl dann nur noch ein einziger behinderter Parlamentarier dabei sein wird, denn mehr sind es im Parlament noch nicht), dass die Resolution nicht einfach in einer Schublade versauern wird, dass der Austausch wirklich weitergeht und dass es viele weitere gemischte Folgesessionen gibt.

Ich lege Ihnen, wie ich es immer bei meinen offenen Briefen mache, mein Buch «Jeder Krüppel ein Superheld: Splitter aus dem Leben in der Exklusion» bei, das den Versuch unternimmt, aus eben jener auszubrechen. Den 44 Superheldinnen und Superhelden, die sich am 24. März in unserem wichtigsten Saal einfinden werden, wünsche ich die Superkräfte, die sie brauchen werden, um in Bern einen durchbrechenden, nachhaltig landesverändernden Erfolg zu haben.

Es grüsst Sie freundlich und hofft auf eine baldige Antwort

Christoph KellerSchriftsteller und Rollstuhlfahrer