Neun Monate nach Olaf Scholz’ Rede von der «Zeitenwende»: Was ist seither aus Deutschlands 100-Milliarden-Programm geworden?
Es war eine jener seltenen Reden, bei denen man sich als Zuhörer fragte, ob kommende Generationen ihr einmal das Prädikat «historisch» verleihen werden.Als der deutsche Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 vor dem Bundestag eine «Zeitenwende» ankündigte, schien in der Militärpolitik seines Landes eine neue Ära zu beginnen:Deutschland brauche eine moderne, starke Armee, verkündete der Sozialdemokrat. Drei Tage vorher waren russische Truppen in der Ukraine einmarschiert.
Bis zu Scholz’ Ansprache hatten innerhalb der Nato viele daran gezweifelt, ob die Bundesrepublik in militärischer Hinsicht überhaupt satisfaktionsfähig war. Deutschland, nach den USA das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land im westlichen Bündnis, hatte seine Armee über Jahrzehnte kurzgehalten und verkommen lassen. Die Truppe stehe «mehr oder weniger blank» da, sagte Generalleutnant Alfons Mais, der Chef des Heeres.
Berlin hatte lange gehofft, sich im Ernstfall auf Amerikaner, Briten und Franzosen verlassen zu können. Wie gross der Nachholbedarf ist, zeigt die Summe von 100 Milliarden Euro, die Scholz’ Regierung in den kommenden Jahren ausgeben will, um die Bundeswehr auf Vordermann zu bringen. Von einem «Sondervermögen» redete der Kanzler beschönigend; tatsächlich handelt es sich um neue Schulden.
Das Zwei-Prozent-Ziel verfehlt Deutschland auch in Zukunft
Neun Monate nach Scholz’ Rede werden erste Bilanzen gezogen. Schmeichelhaft fallen sie nicht aus. «Der Kanzler hat eine grosse Ankündigung gemacht, die lediglich im kleinsten Kreis abgesprochen war», sagt Henning Otte, der im Bundestag stellvertretender Chef des Verteidigungsausschusses ist, im Gespräch mit dieser Zeitung. Viel passiert sei seither nicht, auch weil es in der Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen unterschiedliche Auffassungen gebe.
Für Otte sind die 100 Milliarden mindestens notwendig, «um Kaltstartfähigkeit zu erreichen». Viel wichtiger sei aber, dass die laufenden Betriebsausgaben stiegen. Doch das Gegenteil sei der Fall: «Nächstes Jahr sinkt der Etat von 50,3 auf 50,1 Milliarden Euro. Dort ist er für die nächsten vier Jahre eingefroren.» Mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) müssten in die Verteidigung fliessen. Dazu hat sich Deutschland gegenüber der Nato verpflichtet.
Als Christdemokrat gehört Otte der Opposition an. Dass er der Regierung Versäumnisse vorwirft, ist kaum überraschend. Kritisch äussert sich allerdings auch die Sozialdemokratin Eva Högl, die als Wehrbeauftragte des Bundestags so etwas wie die Interessenvertreterin des Militärs im Parlament ist. «Mit dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro können nur die grössten Lücken geschlossen werden», schreibt sie auf Anfrage. Um wieder vollständig einsatzbereit zu sein, müsse die Bundeswehr auch dauerhaft mit einem ausreichenden Etat ausgestattet werden.
Die Bundeswehr als ungeliebtes Stiefkind der deutschen Politik
Eva Högl deutet an, wie gross und eklatant die Mängel sind, unter denen das deutsche Militär leidet: «Das Geld muss jetzt auch in der Truppe ankommen», schreibt sie: «Jede Soldatin, jeder Soldat braucht einen Helm, eine ABC-Schutzmaske, eine Schutzweste, Stiefel, Socken und einen Rucksack. Das ist leider noch nicht flächendeckend der Fall.»
Der schlechte Zustand der Bundeswehr ist das Ergebnis jahrzehntelanger Fehlkalkulationen: Militärausgaben sind in Friedenszeiten immer unpopulär; ihr Sinn erschliesst sich dann nur dem, der über den Tag hinausdenkt. So wurde die Bundeswehr zu einem ungeliebten Stiefkind der Politik und das Amt des Verteidigungsministers zum unbeliebtesten im Kabinett. Profilieren konnte man sich damit kaum.
Der letzte Minister, der wirklich etwas von der Sache verstanden habe, sei der SPD-Politiker Peter Struck gewesen, ist aus Bundeswehrkreisen gelegentlich zu hören. Struck amtierte von 2002 bis 2005 unter Kanzler Gerhard Schröder.
Seine Nachfolgerinnen und Nachfolger für die Misere verantwortlich zu machen, griffe dennoch zu kurz. Bereits in den frühen Nullerjahren traf die deutsche Politik strategische Entscheidungen, die sich heute als falsch herausstellen. Konventionelle Kriege in Europa hielt man seit dem Zusammenbruch des Ostblocks für unwahrscheinlich; die Bundeswehr wollte man zu einer schlanken Interventionsarmee für internationale Missionen wie den Einsatz in Afghanistan umbauen. Landes- und Bündnisverteidigung galten demgegenüber als überholt. Zeitweise verfügte Deutschland über weniger Kampfpanzer als die Schweiz.
Das Spiegelbild eines Landes, das den Blick fürs Wesentliche verliert
Das zentrale Problem des deutschen Militärs ist das Beschaffungswesen. Kaum ein westliches Land ist in dieser Hinsicht so ineffizient. Bei der Anschaffung von Waffensystemen gab es in der Vergangenheit immer wieder Verspätungen; vieles funktionierte nicht, die Kosten liefen aus dem Ruder. «Die Bundeswehr wurde in den letzten Jahren vom Frieden und von der Innenpolitik her gedacht», sagtder Militärhistoriker Sönke Neitzel.«Ob ein Flugzeug flog, war völlig egal, denn letztlich ging es um Industrie-Förderpolitik und darum, der Nato sagen zu können, wir haben da was.»
Die deutschen Streitkräfte sind auch das Spiegelbild eines Landes, das meint, sehr vieles regeln zu müssen und dabei allzu oft den Blick für das Wesentliche verliert. Selbst Mülltrennungsvorschriften für den Einsatz wurden erlassen; mit der Zeit entstand eine überbordende Bürokratie.
Die Vergabeverfahren zu erleichtern, ist die grösste Aufgabe, vor der die sozialdemokratische Verteidigungsministerin Christine Lambrecht nun steht. «Wir haben auch ein Entscheidungsproblem in der Regierung», meint Neitzel. Zwar habe Lambrecht schon mehr entschieden als ihre Vorgängerin Annegret Kramp-Karrenbauer, doch längst nicht genug.
Ob Scholz’ Rede von der «Zeitenwende» tatsächlich historisch war, wird wohl erst in einigen Jahrzehnten klar sein. Zweifel sind angebracht, und dies nicht nur, weil Mehrwertsteuer, Inflation und ein hoher Dollarkurs einen erklecklichen Teil der 100 Milliarden auffressen dürften. Zudem sind Verteilungskämpfe angesichts einer heraufziehenden Rezession so gut wie programmiert: Trotz Krieg in Europa dürfte es politisch kaum leichter werden, künftig mehr Geld fürs Militär auszugeben.
Wie vermessen die Ankündigung des Kanzlers ist, Deutschland werde «bald die grösste konventionelle Armee in Europa» haben, zeigt ein Blick nach Osten:Während sich die Bundesrepublik schwertut, das Ausgabeziel der Nato zu erreichen, will Polen seinen Wehretat von 2,4 auf fünf Prozent des BIP erhöhen.Schon jetzt besitzt das osteuropäische Land mehr Panzer als sein westlicher Nachbar. 2035 will Warschau eine Truppenstärke von 300’000 erreichen. Deutschland, das mehr als doppelt so viele Einwohner hat, verfügt derzeit über 170’000 aktive Soldaten.