Sie sind hier: Home > Kultur > Vom rechten Bünzlitum zum linken Mief: Die Schweiz hat sich seit Max Frisch gewaltig verändert

Vom rechten Bünzlitum zum linken Mief: Die Schweiz hat sich seit Max Frisch gewaltig verändert

Wer die neue Biografie über den Jahrhundertschriftsteller liest, fragt sich: Warum verharrt die Schweiz-Kritik vieler heutiger Intellektueller in den Mustern der 1990er-Jahre? Und warum verschonen sie, anders als damals Max Frisch, ihr eigenes Milieu?

«Was die Schweiz ausmacht und was ihre Probleme sind, kann man an keiner Figur so gut spiegeln wie an Max Frisch.» Dieser Satz stammt vom legendären Journalisten und Autor Niklaus Meienberg. Sein Befund brachte meinen Redaktionskollegen Julian Schütt auf die Idee, eine Biografie über Max Frisch (1911 bis 1991) zu schreiben.Das Buch ist dieser Tage erschienen und sehr lesenswert.

Frisch verstand es wie kaum jemand sonst, der Schweiz den Spiegel vorzuhalten. Er tat dies mit literarischen Mitteln und mit politischen Interventionen. Unvergessen bleibt sein Fernsehduell mit dem damaligen CVP-Bundesrat Kurt Furgler.

Wortgewaltig kritisierte Frisch die «Filzokratie» aus Politik, Wirtschaft und Armee. Er legte das Bünzlitum der bürgerlichen Gesellschaft offen. Und auch die Neutralität, die nur auf wirtschaftliche Interessen ausgerichtet war, prangerte er an.

Interessant ist, dass sich die linke Schweiz-Kritik in den letzten 30 Jahren nur wenig verändert hat. Das spricht für Frischs Wirkungskraft, aber nicht für die Kritiker von heute. Sie sind stehen geblieben, bedienen dieselben Topoi wie damals. Offenbar verkennen sie, wie sich das Land seit dem Ende des Kalten Krieges entwickelt hat:

– Die «Filzokratie» gibt es immer noch, aber kaum mehr zwischen Hochfinanz und bürgerlicher Politik. Die einzig verbliebene Grossbank, die UBS, streitet sich zurzeit mit der – freisinnigen – Finanzministerin. Diese will strenge Regulierungen und kämpft bis vor Bundesgericht gegen Boni für ehemalige Bankmanager. Der neue Filz breitet sich anderswo aus. Zum Beispiel in den rot-grün beherrschten Städten, wo man sich in den ausufernden Verwaltungen Jobs zuschanzt, im Wohnungsbau die eigene Klientel begünstigt und mit Kultursubventionen diejenigen Institutionen fördert, die einem wohlgesinnt sind. Hat sich je ein Schriftsteller bissig dazu geäussert?

– Auch bei der Neutralität haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Sie folgt längst nicht mehr bloss wirtschaftlichen Interessen. Sonst hätte die Schweiz, nach dem Vorbild der EU, keine Sanktionen gegen Russland erlassen. Die Neutralität des Bundesrats ist mal «aktiv», mal «kooperativ», aber nicht einfach egoistisch. Deshalb sieht sich Blocher genötigt, eine Volksinitiative zur «immerwährenden bewaffneten Neutralität» zu lancieren. Die realpolitische Neutralität ist nicht mehr dieselbe, habens die Kritiker gemerkt?

– Vor allem aber hat sich das Lebensgefühl verändert. Die Schweiz hat sich mediterranisiert und geöffnet. Franz Steinegger durfte einst nicht Bundesrat werden, weil er geschieden war; Martin Pfisters internationale Patchwork-Familie verhalf ihm gegen Bauer Ritter zur Wahl. Die Polizeistunde ist längst abgeschafft, Bars haben rund um die Uhr offen. Während zu Frischs Zeiten die Katholisch-Konservativen für Tanzverbote kämpften, reichen heute sozialdemokratische Ruhebedürftige Lärmklagen ein. Statt des kleinbürgerlichen haben wir den rot-grünen Mief: Dieser stört sich an farbigen Werbe-Screens (in Zürich stimmte das Parlament für ein Verbot), reguliert Laubbläser, verteufelt Fleisch und Flugreisen ins Ausland. Was würde Frisch dazu sagen?

Natürlich haben manche Kritikpunkte von Frisch nichts an Aktualität verloren: Früh forderte er, Europa müsse zwischen der Grossmacht USA und den aufstrebenden Mächten im Osten zusammenrücken, und die Schweiz solle Teil davon sein.

Frisch starb 1991. Im Mai 2000 – vor exakt 25 Jahren – stimmte die Schweiz den bilateralen Verträgen mit der EU zu. Sie brachten die Personenfreizügigkeit. «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen», sagte Frisch einst. Er hat es nicht mehr erlebt, aber die Freizügigkeit machte aus Arbeitskräften Menschen. Der Ausländeranteil beträgt aktuell 28 Prozent, verglichen mit 18 Prozent in Frischs Todesjahr.

Frisch wüsste wohl pointiert zu kommentieren, dass bei der aktuellen Weiterentwicklung der Bilateralen nicht nur Rechtsbürgerliche, sondern auch die Gewerkschaften sich querstellen. Frisch war ein Stachel im Fleisch der Schweiz, der auch das eigene Milieu nicht schonte. Er entlarvte Denkfaulheit und Behäbigkeit auf allen Seiten. Man wünschte, solche Stimmen gäbe es auch heute.

Schreiben Sie einen Kommentar