
Die Wunde wird nicht ganz verheilen: Wie sich das Bavonatal vom Unglück erholt
Fast ein Jahr ist es her. In der Nacht vom 29. auf 30. Juni 2024 ging ein verheerendes Unwetter über dem oberen Maggiatal nieder. Besonders stark betroffen war das Bavonatal, wo ein Murgang den Weiler Fontana erfasste. 300‘000 Kubikmeter Geröll donnerten hier mit dem entfesselten Seitenbach Larecchia ins Tal. Mehrere Menschen verloren ihr Leben, Häuser wurden auseinandergerissen und langjährig gepflegte traditionelle Kulturlandschaften unter Gesteinsmassen und Geröll begraben.
Bis 12. April dieses Jahres war der Zugang zum Bavonatal gesperrt beziehungsweise nur Einheimischen mit einer behördlichen Bewilligung vorbehalten. Seither können Touristen und Feriengäste das Tal wieder besuchen und erkunden.
Durch den Geröllkegel von Fontana führt eine neu asphaltierte Strasse wie durch eine Mondlandschaft. Touristen parkieren hier ihre Fahrzeuge rechts und links der Strasse, auch wenn ein grosses Schild dazu mahnt, eine Parkordnung einzuhalten. Die Neugier ist gross. «Das ist schon sehr eindrücklich», meint ein Paar, das soeben aus seinem Mercedes-Cabriolet mit Zürcher Kennzeichen ausgestiegen ist. Von diesem Punkt lässt sich das ganze Ausmass des Naturereignisses besonders gut beobachten. Bergwärts sind die Überreste von Fontana zu sehen. Talwärts ein Geröllfeld, wo zuvor sanfte Wiesen an das Flüsschen stiessen. Der Rest einer Bogenbrücke ist zu erkennen. Über einen gigantischen Felsbrocken führt eine provisorische Wasserleitung, welche Cevio nun mit Trinkwasser versorgt.
Die Stiftung Bavona hat an dieser Stelle ein Informationsschild installiert, um aufzuzeigen, wie diese Gegend wiederhergestellt werden soll. Von einer «Ricucitura» ist die Rede, was wörtlich «Zusammennähen» bedeutet. Sicher ist: Die Landschaft hier in Fontana und dem benachbarten Mondada soll nicht einfach in den vorherigen Zustand gebracht werden, was angesichts der Felsmassen sowieso als nicht machbar erscheint. Vorgesehen ist, Spuren des Ereignisses sichtbar zu halten und die Bedürfnisse von Menschen und Natur mit Blick auf die Zukunft zu integrieren. Das Ganze soll in einem partizipativen Prozess mit der Bevölkerung entwickelt werden.
Genau dieses Vorgehen hat die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL-FP) überzeugt und dazu bewegt, das Bavonatal als «Landschaft des Jahres 2025» auszuzeichnen. «Die Landschaftsform wird nicht von oben aufgezwungen, sondern wurzelt in den Bedürfnissen der Natur und den Werten der Menschen vor Ort. Dabei kann die Bevölkerung auch die Trauer über die Ereignisse verarbeiten», heisst es in der Begründung.
Hoffen auf Hilfe aus Bern
Die Verantwortlichen schätzen die Kosten auf 5 bis 10 Millionen Franken – zusätzlich zu den 10 Millionen Franken, welche die Gemeinde Cevio für Massnahmen an der Infrastruktur benötigt. Die Hoffnungen fussen hier auf die Politik. Auf Bundesrat Albert Rösti, der am Samstag zur Preisverleihung im Bavonatal weilt, auch wenn er bereits erklärt hat, die Töpfe seien ausgeschöpft. Der Bundesrat gab am Freitag bekannt, dass er weitere 36 Millionen für die Unwetterschäden bereitstellen will – den Segen muss aber das Parlament geben. Bekanntlich haben die Naturgewalten 2024 nicht nur dem Tessin zugesetzt, sondern auch das Bündner Misox sowie das Wallis erfasst.
Auf halber Höhe im Weiler Fontana ist derweil Fabiano Balli damit beschäftigt, vor seinem Rustico aufzuräumen. In der Unwetternacht war er dort mit seinem Vater; das Häuschen wurde knapp verschont, das Geröll und anderes Material aber türmte sich bis vor dem Eingang. Balli ist ein Mann des Tales, das in Jahrhunderten immer wieder von Naturereignissen heimgesucht wurde, und das spiegelt sich in seiner Einstellung: «Wir müssen nach vorne schauen, das Schicksal hängt nicht an uns.»

Bild: Michael Buholzer / KEYSTONE
Vor seinem Haus hat Balli eine ebene Fläche geschaffen, die er wieder als grünen Garten anlegen will. Am 8. Dezember stand der Apostolische Administrator der Diözese Lugano, Bischof Alain de Raemy, genau an dieser Stelle, um mit einer Marienstatue «Immacolata», Mariä Empfängnis, zu feiern. Für Balli war es ein unvergessener Moment. Stolz zeigt er einen kürzlich erschienenen Bildband über das Bavonatal, in dem die Foto vom Bischof vor seinem Haus bereits enthalten ist.
In der Nachbarschaft ist ein Deutschschweizer Paar gerade dabei, nach einem Wochenende in ihrem Ferienhäuschen wieder abzureisen. Seit 45 Jahren kommen sie hierher. «Es war schon ein Schock, als wir von dem Ereignis hörten», erzählt die Frau. Die Landschaft habe sich tatsächlich radikal gewandelt. «Aber es ist erstaunlich, dass wir uns schon ein wenig daran gewöhnt haben», sagt sie.
Tatsächlich ist viel getan worden. Eine gewisse Normalität ist zurückgekehrt. Dies zeigt sich bei der Fahrt nach San Carlo, den letzten Weiler im Tal. Ab und zu gibt es seitlich Geröll von Murgängen, Wegkapellen werden restauriert, doch nur an einer Stelle ist die Strasse noch nicht asphaltiert. In Roseto, wo während der Unwetternacht ein gigantischer See entstanden war, plätschert der Bach wieder friedlich vor sich hin. In Foroglio, bekannt durch seinen eindrücklichen Wasserfall, ist das bekannte Restaurant La Froda gut besucht. Gerant Martino Giovanettina ist zufrieden: «Die Gäste sind zurückgekehrt.» Auch in San Carlo ist die Terrasse des Restaurants Basodino gut besetzt. Erschöpfte Velofahrerinnen und Velofahrer erlaben sich am Brunnen. Alles erscheint friedlich, der Blick talabwärts ins grün schimmernde Tal ist verstörend schön. Doch die steilen, fast senkrechten Bergflanken erinnern daran, dass sich dieses Gebiet bei Unwetter in kürzester Zeit in ein Inferno verwandeln kann.