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Wieso Hochdeutsch das sprachliche Ersatzteillager für die Mundart ist

Ans Hochdeutsche angelehnte Begriffe irritieren Schweizerinnen und Schweizer manchmal. Ohne es zu bemerken, verwenden wir aber ab und zu alle Lehnwörter aus dem Norden.

Neulich habe ich ein erhellendes Interview mit der Linguistik-Professorin Helen Christen gelesen. Seit Jahrzehnten ist Frau Christen eine der kompetentesten Stimmen der Dialektologie in der Schweiz. Und wie viele Menschen, die sich wissenschaftlich mit der Sprache beschäftigen, ist sie viel weniger sprachpessimistisch als manche selbst ernannten Sprachpfleger.

In besagtem Interview wird die Linguistin nach ihrer Meinung zu einem speziellen Sprachphänomen gefragt. Es geht um den Umstand, dass heute viele Menschen, wenn sie in Mundart reden, Hochdeutsche Begriffe brauchen, obwohl es für den gleichen Gegenstand spezifische Mundartbegriffe gibt. Beispiele hierfür finden sich zuhauf, etwa die Verwendung des Wortes «Pfärd» statt «Ross» oder «Träppe» statt «Stäge» oder «arbeite» statt «schaffe». In anderen Fällen haben wir uns so lange beim Hochdeutschen bedient, dass die Begriffe gar nicht mehr als Germanismen erkannt werden, etwa bei «Hügu» statt «Hoger» oder beim Adjektiv «steil» an Stelle von «stotzig».

Wer nun annahm, die Linguistin würde diese Sprachmoden verurteilen oder der «alten», «guten» und «echten» Mundart nachtrauern, sah sich getäuscht. Frau Christen konstatiert einfach, dass manche lautlichen oder grammatikalischen Eigenheiten die Grenze zwischen Mundart und Hochsprache markieren. Sie betont allerdings, dass die Grenze zwischen den Sprachformen immer auch durchlässig sei. Der standardsprachliche Wortschatz biete eine Art Reservoir, bei dem man sich bedienen könne, wenn man etwas benennen oder beschreiben wolle, für das in der Mundart keine geeigneten Begriffe existieren.

Mir persönlich gefällt die Idee vom Reservoir, aber noch schöner fände ich das Bild von einem oder mehreren Ersatzteillagern. Wenn philosophische oder technische Themen abgehandelt werden, für die es in der Mundart keine alten Begriffe gibt, weil die meisten unserer Vorfahren diese Themen nicht kannten, dann können wir uns im «Ersatzteillager Hochdeutsch» bedienen. Deshalb heisst es auch in der Mundart eher «Pferderennbahn» als «Rossrennbahn».

Die eigenwillige Kombination von Rössern und Rennbahnen existiert, sprachgeschichtlich betrachtet, noch nicht lang genug, als dass sich im Dialekt ein eigener Begriff hätte herausbilden können. Also reden wir in der Mundart meist von der «Pferderennbahn». Das «Ersatzteillager Hochdeutsch» haben wir Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer immer schnell zur Hand. Wir entnehmen ihm einfach den gesuchten Begriff und geben ihm eine Schweizerdeutsche Färbung. Der Weltmarktpreis für Erdgas ist gestiegen? Dann sagen wir auf Mundart «der Wäutmarktpriis für Ärdgas isch gstige.» Dass das Wort Markt nicht mitübersetzt wurde und wir deswegen nicht vom Wäutmäritpriis sprechen, fällt niemandem auf.

Wir können festhalten, die Maschine der schweizerdeutschen Dialekte laufe wie geschmiert. Die Dialektmaschine läuft immer. Sie ist grenzenlos produktiv. In manchen Fällen auch dank des hochdeutschen Ersatzteillagers.

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