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Die Zeit ist reif: Passen wir das Steuersystem den Lebensrealitäten an

Kann die Schweiz noch Reform? Die Einführung der Individualbesteuerung steht auf Messers Schneide. Doch wer die Vorlage nüchtern betrachtet, stellt fest: Das neue Steuersystem ist nur eine Anpassung an die Realität.

Der Geburtstermin des Babys von SP-Ständerat Baptiste Hurni ist die neue grösste Sorge der Befürworter der Individualbesteuerung. Hurni könnte am Freitag die Schlussabstimmung zur grössten Steuerreform der letzten Jahrzehnte verpassen, berichteten letzte Woche die Tamedia-Zeitungen. Damit würde die Vorlage scheitern – derart knapp sind die Mehrheitsverhältnisse im Ständerat.

Die Vorlage zur Einführung der Individualbesteuerung steht auf Messers Schneide. Seit Jahrzehnten gibt es diese Pattsituation. Alle wollen die steuerliche Heiratsstrafe abschaffen. Heute zahlen verheiratete mehr direkte Bundessteuern als unverheiratete Paare. Das ist eine Folge der Steuerprogression. Doch das Wie ist umstritten. Die Liste der gescheiterten Abschaffungsversuche ist lang. SVP und Mitte wollen, dass Ehepaare auch künftig gemeinsam veranlagt werden. FDP, GLP, SP und Grüne wollen, dass künftig jeder seine eigene Steuererklärung ausfüllt. Egal ob verheiratet oder nicht. Zivilstandsunabhängig eben.

Sicher ist: Auch wenn die Individualbesteuerung am Freitag im Parlament eine Mehrheit findet, hat die Stimmbevölkerung das letzte Wort. Die Mitte-Partei ergreift das erste Mal überhaupt ein Referendum. Historisch! Und das wegen einer Steuervorlage. Man könnte meinen, bei dieser Vorlage gehe es um Leben und Tod. Sicher ist: es geht um Werte. Dabei würde mehr Nüchternheit und weniger Ideologie dieser Debatte ganz guttun.

Die Gegner sehen in der Individualbesteuerung einen Angriff auf die Ehe und die traditionelle Familie. Traditionell im Sinne von: Der Mann arbeitet zu Hause, die Frau sorgt für Kinder und Haushalt. Nichts gegen dieses Familienmodell. Tatsache ist jedoch, dass die Mehrheit der Familien nicht mehr so lebt. Die Erwerbstätigkeit der Frauen steigt kontinuierlich an, ebenso die Höhe der Pensen. Heute machen 71 Prozent der Ehepaare im erwerbsfähigen Alter den Zweitverdienerabzug geltend. Das heisst nichts anderes, als dass beide einer Arbeit nachgehen. Die Individualbesteuerung trägt dieser Realität Rechnung. Sie sorgt dafür, dass sich dieses Zweiteinkommen auch lohnt.

Dass die Erwerbstätigkeit der Frauen zunimmt und das Steuersystem diesen Prozess unterstützt, ist sinnvoll. Die Schweiz braucht mehr Fachkräfte, weil die Babyboomer in Rente gehen. Nur über Zuwanderung lässt sich dieses Problem nicht lösen. Zudem hat das Bundesgericht festgehalten, dass die Ehe keine Lebensversicherung mehr ist. Frauen müssen nach einer Scheidung in der Regel selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Das wiederum heisst, dass der Staat die Rahmenbedingungen schaffen muss, damit die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen gestärkt wird. Die Individualbesteuerung ist ein Instrument dazu.

Es liegt in der Natur von Steuerreformen, dass es Verlierer und Gewinner gibt. Wobei die Vorlage des Parlamentes ein austarierter Kompromiss ist. Die Ausfälle sind auf 600 Millionen Franken begrenzt. 50 Prozent der Steuerzahler profitieren, für 36 Prozent ändert sich nichts. Bleiben 14 Prozent, die mehr bezahlen müssen. Ja, das ist bitter. Doch es handelt sich um Paare mit sehr hohen Einkommen und klassischer Rollenteilung.

Mehr Nüchternheit und weniger Ideologie würde vor allem der Mitte-Partei gut anstehen. Sie kämpft an vorderster Front gegen die Individualbesteuerung. Denn sie will die gemeinsame Veranlagung von Ehepaaren in der Verfassung festschreiben

Dabei hat die Mitte-Partei einen Weg hinter sich. Anfänglich propagierte sie das Vollsplitting, welches teuer und für Einverdienerfamilien vorteilhaft ist. Mittlerweile fordert die Partei die alternative Steuerberechnung. Das heisst, für Ehepaare würde eine Schattenrechnung erstellt. Wäre die individuelle Veranlagung vorteilhaft, müsste das Paar den tieferen Steuerbetrag bezahlen. Die Partei will so die Vorteile der gemeinsamen Veranlagung und der Individualbesteuerung kombinieren. Denn auch die Mitte will die Erwerbsanreize für Frauen erhöhen. Das Steuersystem soll die «gesellschaftlichen Realitäten abbilden».

Das Modell hat verschiedene Haken. So ist es nicht zivilstandsneutral. Und was der Mitte-Partei nicht gefallen dürfte: dass in diesem Modell ebenfalls Ehepaare mit einer gleichmässigen Einkommensaufteilung besser fahren als traditionelle Familien. Vor allem wären die Steuerausfälle höher. Der Bundesrat schätzt sie zwischen 700 Millionen und 1,4 Milliarden Franken. Werden die Ausfälle gering gehalten, würde es deutlich mehr Verlierer geben als bei der Individualbesteuerung. Konkubinatspaare mit Kindern und auch Alleinerziehende müssten mehr bezahlen.

Der Diskussionsbedarf im Abstimmungskampf ist gross.