Sie sind hier: Home > Kultur > «Der Staat gebärdet sich zunehmend als Tugendwächter»

«Der Staat gebärdet sich zunehmend als Tugendwächter»

René Scheu ist Philosoph und Mitgründer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP). Er wird mit dem Freiheitspreis 2025 ausgezeichnet. Im Interview sagt er, warum Liberalismus für Wohlstandsbürger unattraktiv und die Rede vom Kaputtsparen des Staates irreführend ist.

Der Freiheitspreis der Bonny-Stiftung zeichnet «Mut» aus. Inwiefern war der Aufbau des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern mutig?

René Scheu:Mut ist erst mal nichts, was man sich selber attestieren kann. Den müssen andere einem zusprechen. Als Christoph Schaltegger und ich den Gedanken fassten, ein Wirtschaftsforschungsinstitut zu gründen, wollten wir das Richtige tun – nämlich zu wirtschaftspolitisch relevanten Fragen forschen, die in der Schweiz unerforscht oder jedenfalls untererforscht sind: Wie steht es um die Ungleichheit in der Schweiz? Wer finanziert den Staat? Wie durchlässig ist unsere Gesellschaft? Darauf Antworten zu finden, und zwar nicht auf Meinungs-, sondern auf Faktenbasis, ist eine höchst reizvolle Aufgabe.

Philosophen sind selten Gründer von liberalen Instituten. Was war Ihr Antrieb?

Neugier und Unternehmergeist. Das IWP ist keiner Weltanschauung, sondern allein der Erkenntnissuche verpflichtet. Wir forschen und publizieren frei, gleichsam narrenfrei, das macht unheimlich Spass!

Das IWP hat schnell Bekanntheit erlangt – auch mit der Publikation provokativer Studien – und Kolumnen in dieser Zeitung. Eine bewusste Strategie?

Mit Verlaub – provozieren ist nicht unser Business. Das sind journalistische Kriterien. Uns geht es um etwas anderes: herauszufinden, wie es sich verhält, was wirklich der Fall ist. In Medien kursieren manche Meinungen, die dadurch nicht wahrer werden, dass man sie ständig wiederholt. Dass Erkenntnisse schmerzen können, ist klar. Die Wirklichkeit ist ja nicht neutral; sie ist einfach das, was sie ist.


Das Institut hat eine liberale Haltung. Vielleicht reicht das schon als Provokation?

Das IWP ist weder liberal noch illiberal oder antiliberal, es ist stattdessen unabhängig, neugierig und unvoreingenommen bei der Sache. Dabei versteht sich von selbst: Wenn unsere Erkenntnisse zur Kenntnis genommen werden, gibt es immer Leute, die damit nicht happy sind. Aber wir wollen es nicht allen recht machen, schielen weder nach links noch nach rechts. Wir orientieren uns – ganz old school – an der Wahrheit.

Grosse Worte!

Natürlich haben wir die Wahrheit nicht gepachtet. Aber wir versuchen, uns ihr anzunähern, so gut es geht.

Warum haben es liberal-konservative Stimmen an Universitäten und Hochschulen so schwer?

Nehmen wir den Journalismus oder die Ökonomie. Gemäss einer neueren Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ordnen sich 76 Prozent der Journalisten als links ein, und zwar unabhängig davon, ob sie bei öffentlichen oder privaten Medien angestellt sind. Nicht wirklich erstaunlich ist, dass viele von ihnen ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert haben. Oder nehmen wir die ökonomische Zunft…

…die verorten Sie auch links?

Gemäss einer neuen Umfrage von KOF und NZZ reihen sich 80 Prozent als mittig, eher links oder links ein. Allerdings sollte die akademische Arbeit davon nicht betroffen sein. Denn es geht ja eben nicht um Haltung oder Befindlichkeit, sondern um Erkenntnis – unabhängig von der eigenen Haltung oder Befindlichkeit.

Der Liberalismus ist weltweit unter Druck. Wie sehr auch in der Schweiz?

Liberalismus als jene Lebensart, die Menschenwürde, Eigenverantwortung und Wahlfreiheit ins Zentrum stellt, ist anstrengend. Sie ist attraktiv für Menschen, die aus ihren Ketten ausbrechen, ihren schwierigen Verhältnissen entkommen wollen. Aber der Liberalismus ist zugleich unattraktiv für all jene, die bereits viel erreicht haben und im Wohlstand leben.

Dann geht es um Besitzstandswahrung.

Wohlstandsbürger haben vor allem die eigene Rundumabsicherung im Auge: Bloss nicht verlieren oder zurückstecken. Wohlhabende Gesellschaften haben deshalb aus nachvollziehbaren Gründen eine starke sozialkonservative Note.

Die Folge davon ist, dass der Staat ausgebaut wird. Trotzdem besteht der Eindruck, er müsse dauernd sparen.

Halten wir uns an die Fakten: Die Ausgaben für den Bund haben sich in den letzten rund dreissig Jahren verdoppelt, jene für den Sozialstaat verdreifacht. Das ist beachtlich. In einer direkten Demokratie ist das selbstverständlich legitim, sofern die Bürger die faktischen Verhältnisse kennen und diese so wollen. Vom Kaputtsparen des Staates und von Sozialabbau zu reden, ist angesichts der Faktenlage allerdings irreführend. Was es braucht, ist eine klare Bestandesaufnahme als Entscheidungsgrundlage. Und dafür braucht es Forschung.

Nach dem EWR-Nein 1992 startete die Schweiz ein liberales Revitalisierungsprogramm. Bräuchte es jetzt angesichts des US-Zollschocks wieder so etwas?

Revitalisierung braucht es immer. Wer zieht letztlich den wirtschaftlichen Karren, in der Schweiz wie anderswo? Es sind die Unternehmer mit Skin in the Game. Reüssieren sie, profitieren alle – sie selbst, aber auch die Mitarbeiter, die Kunden, die Forschung, der Staat dank Steuereinnahmen. Fallieren sie, verlieren sie das eingesetzte Kapital und je nachdem den Ruf, während die anderen eher glimpflich davonkommen. Unternehmerisches Handeln ist insofern ein soziales Modell für die meisten. Dass umgekehrt Wohlstand träge macht, ist keine neue Erkenntnis. Allerdings würde ich nicht so weit gehen zu sagen, der Zollschock sei ein willkommener Weckruf für die Schweizer Wirtschaft. Aber ich bin sicher: Die Schweizer Unternehmer und Mitarbeiter packen auch das!

Der Liberalismus ist für viele ein Auslaufmodell. Im Gegensatz dazu haben libertäre Bewegungen Aufwind, ihr Aushängeschild ist Javier Milei. Was halten Sie von ihm?

Argentinien ist bestimmt ein Land, das sich zu beobachten lohnt. Der neue Präsident hat die Inflation in Rekordzeit gesenkt, wobei die Wirtschaft zugleich wieder wächst. Im Übrigen wäre ich vorsichtig mit der Verteilung von Labels. «Libertär» – was ist damit genau gemeint? Klar, das gehört zum journalistischen Business, und damit lässt sich spielen. Aber hilft es wirklich weiter?

Pflegen einen engen Austausch: René Scheu mit dem deutschen Intellektuellen Peter Sloterdijk, hier bei einer Veranstaltung in Teufen.
Bild: Belinda Schmid

Welche liberalen Leuchttürme sehen Sie in Europa?

Was ich feststelle: Weder in Italien noch in Polen ist der Autoritarismus ausgebrochen, wie viele befürchtet haben. Derweil nennen sich bei uns viele liberal, obwohl sie nicht mehr den Mut haben, für Selbstverantwortung einzustehen, weil dies gleich so hart klingt. In Wahrheit nimmt die freiheitliche Sicht den Menschen ernst: in seiner Kraft und Würde. Karin Keller-Sutter hat die Tugenden einmal schön in Reimform zusammengefasst: Erwirtschaften vor verteilen; Freiheit vor Gleichheit; privat vor Staat.

Wo sehen Sie im liberalen Denken Grenzen? In dieser Zeitung haben Sie einen Artikel für Handyverbote an Schulen publiziert…

Auch freiheitlich gesinnte Menschen sind nicht partout gegen Verbote. Im konkreten Fall: Freiheit will erlernt sein, dafür braucht es Disziplin und Konsistenz im Handeln, und dafür wiederum bedarf es eines ausgebildeten Frontallappens. Wird die Entwicklung des Frontallappens behindert, führt dies nicht zu Freiheit, sondern zu Grenzenlosigkeit und Wankelmütigkeit – was nicht dasselbe ist. Allerdings würde ich ganz allgemein sagen: Die Verbotskultur hat in unseren Gesellschaften überhandgenommen.

Das Smartphone-Verbot sehen Sie da als berechtigte Ausnahme?

Ja. Der Staat gebärdet sich zunehmend als Tugendwächter, obwohl er seiner eigenen Idee nach keine moralische Instanz ist. Er sollte den Menschen nicht befehlen, das Richtige zu tun. Stattdessen sollte er die Bedingungen schaffen, unter denen Menschen selbst das tun, was sie für das Richtige halten. Das ist ein kleiner, aber entscheidender Unterschied.

Sie haben die NZZ verlassen und sind einen ungewöhnlichen Weg vom Feuilleton in die Wirtschaftspolitik gegangen. Was hat Sie dazu gebracht?

Meine Zeit als Feuilletonchef der NZZ unter Eric Gujer war grossartig. Das ist kein Job, sondern eine Aufgabe – allerdings keine mehr für die Ewigkeit. Sie wissen es besser als ich: Die Pace auch im Kulturjournalismus ist hoch, die Halbwertszeit wird immer kleiner. Ich habe die Aufgabe fast sechs Jahre mit Herzblut erfüllt. Danach war für mich – vor dem 50. Geburtstag – Zeit für etwas Neues. Mit Christoph Schaltegger habe ich den perfekten Compagnon gefunden. Zusammen haben wir das IWP aufgebaut. Wir hoffen, dass wir damit in Helvetien zusammen etwas für die Ewigkeit gebaut haben!