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Der verunfallte Teenager träumte von einer Rapkarriere – seine Mutter sagt: «Mein Sohn ist kein Dieb»

Freunde beschreiben den Jugendlichen, der in Lausanne auf der Flucht vor der Polizei tödlich verunglückte, als ruhig und besonnen. In der Stadt kam es in der Nacht auf Dienstag erneut zu Krawallen. Und die Staatsanwaltschaft präsentiert erste Ergebnisse der Ermittlungen.

Der Fall erschüttert die Westschweiz. Am Sonntag um 3:45 Uhr rückte eine Patrouille der Lausanner Stadtpolizei wegen eines Raubs aus. Sie entdeckte einen Scooterfahrer. Als dieser die Polizei sah, ergriff er in hohem Tempo die Flucht. In einer Tempo-30-Zone verlor er die Kontrolle über das Fahrzeug, das tags zuvor als gestohlen gemeldet worden war. Er streifte einen Container und prallte gegen eine Mauer. Der 17-jährige Teenager aus der Stadt Lausanne erlag trotz Reanimationsversuchen seinen Verletzungen. Die Anteilnahme ist gross. Freunde und Bekannte haben am Unfallort im Quartier Prélaz Blumen hingelegt.

Der Tod des Jugendlichen hat Proteste ausgelöst. An Hauswände und auf Busse der Lausanner Verkehrsbetriebe wurde der Satz «Die Polizei tötet» gesprayt. In den Nächten auf Montag und auf Dienstag kam es zu heftigen Unruhen im Quartier, die an Aufstände in französischen Grossstädten erinnern. Während der ersten Krawallnacht verprügelten mehrere Vermummte den SVP-Stadtparlamentarier Thibault Schaller. Er wird Strafanzeige erstatten.

Die Waadtländer Staatsanwaltschaft präsentierte am Dienstagnachmittag in einer Medienmitteilung erste Erkenntnisse der Untersuchung – in der Hoffnung, die erhitzten Gemüter zu beruhigen und Klarheit zu schaffen. Demnach trug der Jugendliche einen Helm. Zwei Zeugen stiegen aus einem Auto und eilten dem 17-Jährigen sofort zur Hilfe. Sie waren vor der Polizei beim Verunfallten. Für die Staatsanwaltschaft ist dies ein starkes Indiz für die These, wonach die Patrouille mit einem grösseren Abstand dem Flüchtigen folgte und dieser die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor.

Der Jugendliche besass keinen Führerschein für die Art von Motorrad, auf dem er sein Leben verlor. Die Staatsanwaltschaft wird nun die Blackbox des Scooters auswerten, um die Geschwindigkeit während der Flucht zu eruieren. Auch die Funksprüche der Polizisten werden analysiert, und das Unfallopfer wird einer Autopsie unterzogen.

Anständig, freundlich, lächelnd

In Westschweizer Medien sind derweil neue Informationen zu dessen Hintergrund aufgetaucht. Der Jugendliche ist Schweizer Bürger, heisst Marvin, hat kongolesische Wurzeln und lebte mit seinen Eltern und den zwei grösseren Brüdern in einer Wohnung in der Nähe der Kathedrale. Seine Mutter arbeitet im Bereich der Sozialarbeit, sein Vater im Gesundheitswesen.

Gegenüber dem Westschweizer Radio und Fernsehen RTS beschreiben Bekannte Marvin als «anständigen», «freundlichen» und «lächelnden» Jungen. «Er war immer für mich da – selbst in den schwierigsten Zeiten meines Lebens», sagte ein Freund. Am Montag sollte er ein Motivationssemester beginnen zugunsten seiner beruflichen Eingliederung.

Marvin träumte von einer Karriere als Rapper, er war Mitglied der Gruppe 2SeptG. Wenige Stunden vor dem Unfall drehte er mit der Gruppe ein Musikvideo. Ein Gruppenmitglied sagte aufTiktok, Marvin sei für ihn wie ein Bruder gewesen. Er beschrieb Marvin als friedlichen, ruhigen Menschen und rief dazu auf, in Ruhe und gemeinsam zu trauern. Auch aus Rücksicht auf Marvins Familie, anstatt auf der Strasse Container anzuzünden, Passanten zu verprügeln und sich Auseinandersetzungen mit der Polizei zu liefern. Der Rapper sagte: «Diese Reaktion wird Marvins Wesen in keiner Art und Weise gerecht.» Er befürchtet, dass die Krawalle ein schiefes Licht auf Jugendliche aus dem Quartier werfen.

Marvins Familie äusserte sich gegenüber der Zeitung «24 heures» zum tragischen Unfall ihres Sohnes. Die Mutter empörte sich über die Mutmassung, Marvin könnte einen Scooter gestohlen haben. «Mein Sohn ist kein Roller-Dieb. Er war kein Krimineller. Er war der Justiz nicht bekannt. Er war nie ein schwieriges Kind. Er war stabil.» Sie habe keinen Scooter vor ihrem Haus gesehen. Es habe wohl eine Gruppendynamik gespielt, der Scooter sei in die Hände vieler Jugendlicher gelangt. «Wer ihn gebracht hat, wissen wir nicht.»

«Wir sind in der Schweiz gut integriert», sagte die Mutter. «Wir sind eine praktizierende christliche Familie. Es gibt Regeln. Wenn unsere Kinder nicht nach Hause kommen, rufen wir sie an.» AufInstagramerwies der ältere Bruder Marvin seine Ehre. Er sei der beste Bruder gewesen, den man sich vorstellen könne.

150 bis 200 Jugendliche randalierten

Der Aufruf von Marvins Rapfreund blieb derweil ohne Wirkung. In der Nacht auf Dienstag kam es zum zweiten Tag in Folge zu heftigen Krawallen. Gemäss der Waadtländer Kantonspolizei errichteten im Quartier Prélaz kurz vor 22 Uhr etwa 150 bis 200 Jugendliche und junge Erwachsene Barrikaden auf der Strasse. Einige trugen eine Kapuze. Die Krawallanten steckten Container in Brand, entzündeten Benzin auf der Strasse, schossen Feuerwerkskörper, Steine und Molotowcocktails in Richtung Polizei. Auch in einem anderen Quartier wüteten die Jugendlichen und beschädigten Busse der Lausanner Verkehrsbetriebe.

Am Montagabend kam es in Lausanne erneut zu Ausschreitungen.
Bild: Cyril Zingaro /EPA

Die Polizei reagierte mit einem Grossaufgebot von etwa 140 Einsatzkräften auf die Ausschreitungen. Sie setzte Gummigeschosse, Tränengas und Wasserwerfer ein, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Sie nahm sieben Personen fest. Auch die Feuerwehr stand im Einsatz. Die Polizei und die Behörden riefen erneut zur Ruhe auf.

Der Appell erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem der Ruf der Lausanner Stadtpolizei arg ramponiert ist. Am Montag teilten das Polizeikommando und der Stadtrat mit, dass vier Polizisten von ihrem Dienst suspendiert wurden. Die Staatsanwaltschaft hatte die Behörden darüber informiert, dass insgesamt etwa 50 Polizistinnen und Polizisten Teil von zwei Whatsapp-Chatgruppen waren, in denen rassistische Inhalte geteilt wurden.