
«Das Herz wird nie dement»: Einblicke in das Leben mit Demenz
Sie ist unheimlich, heimtückisch, zerstörerisch: Wer an Demenz erkrankt, verliert sich selbst. Betroffene ziehen sich in ihre eigene Welt zurück, ihre Persönlichkeiten verändern sich, manche verhalten sich gegenüber ihrem Umfeld aggressiv.
Was die Krankheit mit Menschen macht, weiss kaum einer besser als André David Winter (1962). Er engagiert sich seit vier Jahrzehnten in der Pflege und arbeitet als Coach, Kursleiter und Erwachsenenbildner im Gesundheitswesen. Und er schreibt Bücher, meist sind es Romane. 2011 erschien der Band «Bleib wie du wirst. Deine Demenz, unser Leben.»
Schonungslos offen und berührend
Rund 20 Angehörige von Demenzkranken hat Winter zuhause besucht und ihre Geschichten aufgeschrieben. Am Donnerstagabend hat er im Pflegeheim Sennhof daraus vorgelesen. Das Thema beschäftigt die Menschen offenbar stark: Rund 80 Stühle standen im Festsaal bereit, 20 weitere musste «Sennhof»-Geschäftsleiter Urs Schenker kurzfristig aufstellen lassen.
Winters Alltagsgeschichten sind schonungslos offen und bewegend. Sie schildern eindringlich die Überforderung und Verzweiflung von Angehörigen, deren Mütter, Väter, Ehefrauen und -männer in einer Demenz versinken. Kein Fachbuch also, sondern eines, das berühren soll, wie Winter sagte. Dass der Umschlag rot sei, habe einen tieferen Grund: Pastelltöne würden nicht zu den ergreifenden Erzählungen passen.
Auf dem anschliessenden Podium wurde klar, dass es oft die «gleichen Themen in Varianten sind», die Angehörige von Erkrankten beschäftigen, wie der Seelsorger Thomas Jenelten sagte. Er ist Präsident von Alzheimer Aargau, einer Organisation, die Betroffene und deren Umfeld unterstützt. Da ist fast immer das Ringen mit der Frage, wie lange Angehörige ihre kranken Liebsten in den eigenen vier Wänden betreuen wollen. Sich selbst zu schützen und sich einzugestehen, dass die Last irgendwann nicht mehr zu tragen ist, sei wichtig, so Jenelten.

Bild: Philippe Pfister
Schuldgefühle sind «extrem treu»
Und da sind die Schuldgefühle, die «extrem treu sind», wie Winter meinte, also immer wieder zurückkehren. Einfach abstellen lassen sich diese nicht, das ist auch die Erfahrung von Gisela Zbinden, die einen geschützten Wohnbereich des «Sennhofs» leitet.
Dort lebt inzwischen auch die Ehefrau von Hans Haas, der sichtlich bewegt von seiner wachsenden Verzweiflung sprach, als sich ihre Krankheit verschlimmerte. Es sei für ihn schwierig geworden, zu sich selber zu schauen, sagte er. Inzwischen habe er eine Distanz aufbauen könne, die ihm guttue – auch dank einer Angehörigengruppe, die sich im «Sennhof» regelmässig trifft. Ins Leben gerufen hat diese Alzheimer Aargau, zehn davon gibt es inzwischen im Kanton. Der gegenseitige Austausch ist für Angehörige eine sehr hilfreiche Erfahrung. Sie lernen nicht nur, besser mit dem Schmerz umzugehen. Sondern auch, wie eine andere, ebenso wertvolle Beziehung entstehen kann.
So sieht es auch André David Winter, der seine unzähligen Begegnungen mit Demenzkranken auf eine Formel bringt: «Das Herz wird nie dement.» Wem es gelinge, sich dem Herzen von kranken Menschen zu öffnen, empfinde die Demenz nicht mehr nur störend. «Irgendwann gehört sie dazu.» (pp)