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Was, wenn uns die Medikamente ausgehen?

Eins von sieben Antibiotika ist in den letzten fünf Jahren vom Schweizer Markt verschwunden. Als Grund nennt eine neue Studie den steigenden Preisdruck. Die Branche verlangt ein Umdenken.

Es sind ungemütliche Nachrichten aus dem Bundesamt für Gesundheit: «Aktuell kann die Versorgung mit Arzneimitteln nicht in allen Fällen sichergestellt werden», schreibt die Behörde Ende Oktober. Die Liste der Versorgungsengpässe wächst weiter, über 700 Medikamentenpackungen sind nicht lieferbar. Es fehlen starke Schmerzmittel, Impfungen, Insulin und Antibiotika. Alleine die Liste zeigt: Der Kreis der Betroffenen ist gross.

Der Mangel an wichtigen Medikamenten ist zwar kein spezifisch schweizerisches Problem. Die Engpässe nehmen weltweit zu. Trotzdem prüft der Bundesrat neue Massnahmen. Er will verhindern, dass gerade günstige Arzneimittel wegfallen, die für die medizinische Grundversorgung so wichtig sind.

Die Behörden reagieren; sie reagieren aber spät. Das zeigt eine neue Studie von New Angle im Auftrag des Pharmakonzerns Viatris. Sie hat die Lieferengpässe in 16 europäischen Staaten untersucht, auch in der Schweiz.

Preis für Antibiotika um 10 Prozent gesunken

Die schlechte Versorgungslage in Europa hat verschiedene Ursachen. Dazu zählt eine Konzentration der Hersteller und dass viele von ihnen die Produktion nach Asien auslagert haben. Die steigenden Produktionskosten und vor allem anhaltende Preissenkungen gehören zu den wichtigsten Treibern dieser Abwärtsspirale.

Beispielhaft zeigt sich das bei Antibiotika: Zwischen 2020 und 2024 ist laut Studie der Durchschnittspreis der zehn wichtigsten Antibiotika um 10,4 Prozent gesunken – trotz höherer Produktionskosten und Inflation. «Diese Dynamik wird durch nationale Preissysteme vorangetrieben, die den Herstellern keine Möglichkeit bieten, die Preise auch bei starken Kostensteigerungen anzuheben», schreiben die Verfasser der Studie. In der Folge ziehen sich die Hersteller aus den für sie unattraktiven Märkten zurück.

Die vollen Regale täuschen: Starke Schmerzmittel, Insulin und Kindermedikamente sind nur begrenzt verfügbar.
Bild: Boris Bürgisser

Genau das passiert auch in der Schweiz, wie Ernst Niemack sagt. Er ist Geschäftsführer des Pharmaverbands Vips, der rund hundert Unternehmen in der Schweiz vertritt. «Die Entwicklung ist fatal», erklärt der Branchenkenner. «Die Preise wurden so stark gedrückt, dass viele Medikamente für Schweizer Patientinnen und Patienten heute nicht mehr verfügbar sind.»

Dass sich daran kurzfristig etwas ändert, hält Niemack für unwahrscheinlich. «Zieht sich ein Hersteller aus dem Schweizer Markt zurück, ist er weg. Und zwar für immer.» Da würden auch neue Preisangebote nichts mehr helfen. Denn die Hersteller müssten bei der Heilmittelbehörde Swissmedic ein neues Gesuch auf Zulassung stellen. Bei Medikamenten wie Antibiotika aus den Achtzigerjahren sei das höchst aufwendig, weil dafür neue Studien benötigt würden, so Niemack. «Das lohnt sich nicht.»

Die Folgen sind bereits heute spürbar, wie Niemack sagt. «Bei der Grundversorgung sind wir schon ganz unten angelangt.» Antibiotika, Schmerzmittel, Impfungen und Kindermedizin würden zu derart tiefen Preisen gehandelt, dass sie nicht mehr in die Schweiz geliefert werden. Die Studie zeigt: In den letzten vier Jahren verschwanden 17 Prozent der Antibiotika vom Schweizer Markt.

1 Milliarde Franken an Medikamentenkosten gespart

Die Kritik richtet sich ans Bundesamt für Gesundheit, das alle drei Jahre sämtliche Arzneimittel auf ihre Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit prüft – und in der Folge die Preise senkt. Über die Jahre konnten mehr als 1 Milliarde Franken an Medikamentenkosten gespart werden, zuletzt waren es zusätzlich 65 Millionen Franken für 2025.

Die Apotheker warnen schon lange vor Engpässen. Sie haben darum eine Initiative lanciert.
Bild: Boris Bürgisser

Dass das Amt die Preise trotz Versorgungsproblemen blind weiter senkt, stimmt allerdings nicht. Bei der erwähnten Arzneimittelüberprüfung 2025 hat es bei 55 Arzneimitteln auf eine Preissenkung verzichtet, weil diese für die Versorgung relevant sind. Dazu gehört auch ein wichtiges Antibiotikum, ein Co-Amoxicillin-Sirup.

Das ist kein Einzelfall, wie das BAG erklärt. In den letzten drei Jahren seien bei Antibiotika die meisten Ausnahmen gewährt worden. Bei den Amoxicillin-Sirups hat die Behörde im letzten Jahr gar auf Preisüberprüfungen verzichtet und auf Antrag aller vier Zulassungsinhaber eine Preiserhöhung gewährt.

Der Bund steckt im Dilemma

Die Behörden zeigen durchaus Interesse, Arzneimittel auf dem Markt zu halten. Insgesamt hat das BAG seit 2017 auf 200 Preissenkungen verzichtet, wie das Amt festhält. Ausserdem ist es auf Hersteller zugegangen, die ihre Zulassung zurückziehen wollten, um einen Marktaustritt zu verhindern.

Ernst Niemack räumt ein: «Das BAG hat sich in den letzten zwei Jahren bewegt, es hat die dramatische Lage anerkannt.» Er kritisiert aber die rigide Haltung: So lehne das BAG Anfragen für Preiserhöhung meist ab.

Linderung verspricht nun eine vom Parlament verabschiedete Massnahme im Kostendämpfungspaket 2: Für kritische Medikamente kann die Preisüberprüfung ausgesetzt werden, auch Preiserhöhungen sollen möglich sein.

Ein Ausweg aus der «Versorgungskrise» sei das nicht, sagt Vips-Geschäftsführer Niemack. «Das BAG legt sein Augenmerk auf die Kostengünstigkeit. Wir sehen bereits jetzt, dass von der angedachten Regelung nur Nischenprodukte profitieren können.» Die Mangellage werde sich verschärfen. Die Pharmafirmen fordern darum schon länger eine Überarbeitung des Systems zur Preisfestlegung. Gleichzeitig wollen sie zusammen mit Ärzten und Apothekern über eine Initiative dem Bund mehr Kompetenzen verschaffen, um die Versorgung zu sichern.

Das Dilemma für den Bund lässt sich indes nicht aus dem Weg räumen: Die Medikamentenpreise lassen sich nicht beliebig in die Höhe schrauben, weil sich das unmittelbar auf die Krankenkassen-Prämien auswirkt. Die Versorgungssicherheit zu gefährden, ist selbstredend auch keine gute Option.