Sie sind hier: Home > Herbst > Es ist Chilbi! Rapport von dem Ort, wo die Kindheit konserviert wird

Es ist Chilbi! Rapport von dem Ort, wo die Kindheit konserviert wird

Rummelplätze sind eine Folter für sonst konsequente Eltern. Aber Erwachsene, die nicht neben dem Kassenhäuschen warten bleiben, sondern mit einsteigen, denen schleudert die Zentrifugalkraft das Pflichtgefühl weg. Danke dafür! 

Angestanden, Chip gekauft, Sessel ergattert, Chip abgegeben. «Festhalten, es geht looos!» Während die Eingeweide von der Zentrifugalkraft an die Plastikverschalung des Sessels gedrückt werden, wird das Gefühl des Erwachsenseins rausgeschleudert. Vielleicht schwebte es noch einen Moment über dem Chilbiplatz und hat gemeckert, wie debil das da unten doch alles sei, eine Abzockerei ausserdem und im schlimmsten Fall lebensgefährlich.

Ich bin wohl in Hypnose, ausgelöst durch die mürrische Frau im Kassenhäuschen, genau wie all jene vor vielen Jahren – danach bekräftigt vom Typen, der mir den Chip aus der Hand gerissen hat, wie damals, als ich fünf Jahre alt war. Wie jetzt das Kind neben mir. Jedenfalls kreische ich mit. Enthemmt. Die Zentrifugalkraft! Wurde die über die Jahrzehnte stärker? Es fährt ein. Die Teenagerin vor mir muss jetzt doch das Handy weglegen und sich mit beiden Händen halten. Die lauten Hits aus den Neunzigern verstärken mein Flashback.

Fünf Minuten später stehen wir wieder neben der Oktopusbahn. Meine Beine sind wackelig. Halte ich die Hand der Kleinen oder sie eher meine? «Noch eine Bahn, noch eine!», bettelt sie.

Während sie mit dem Chilbi-Mantra aller Kinder fortfährt, denke ich: Die Chilbi konserviert unsere Kindheit. Sie hat sich verändert und ist dennoch wie immer: reines, direktes Realitätserlebnis. Sehen, hören, die Fliehkräfte fühlen, im Adrenalin baden, im Zuckerwatteschock taumeln und schauen, dass man die Liebe(n) im Getümmel nicht aus den Augen verliert.

Alles echte, betörende Realität

Während wir unter der Achterbahn stehen, der «Crazy Mouse», von der alle Kinder im Quartier schwärmten, und auf die anderen warten, sehe ich die Schrauben, Räder, die nackte Technik, der wir im Geschwindigkeitsrausch unsere Gesundheit anvertrauen. Das Kettenöl, die Stellen, wo die Farbe abblättert. Es ist nichts fake, selbst Michael Jackson, Marilyn Monroe und Jackie Chan sind ehrlich gesprayte Kulissen hinter einer Bahn, welche die Sessel einzeln herumwirbeln lässt.

Marylin Monroe peppt auch heute noch die Chilbi auf.
Bild: kus

Natürlich gibt es heute auf grossen Chilbis Bahnen, die man sich früher in den kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können: ein Karussell, dessen Dach schwenkt. Und eines, an dem die Sitze in 80 Metern Höhe im Kreis schwingen. Es gibt Türme, an denen man senkrecht in die Tiefe stürzt, oder Flugsimulatoren.

Sturz in die Tiefe für zwölf Franken (Freefall-Tower auf einem Rummelplatz in St. Gallen).
Bild: Donato Caspari / chmedia

Aber die Putschiautos, das Riesenrad und die Geisterbahn sind immer noch da. Da hängen handgeschriebene Schilder, auf denen steht: «Nur 1 Ball in der Kanne: freie Auswahl! 4 Bälle: 5.-, 10 Bälle: 10.-» Das Marktprinzip der Vergünstigung bei grossem Konsum einfach vermittelt.

Und keine visuelle Illusion hat das Büchsenschiessen abgelöst, das Quietschentchenfischen oder Luftgewehrschiessen. Und so gehen junge Pärchen immer noch mit überdimensionierten Plüschtieren vom Gelände. Das ganze Plastikzeugs, das die Eltern das Jahr über aus dem Kinderzimmer fernzuhalten versuchen: An der Chilbi gibt’s dann doch einen Batzen für ein Plastikgewehr. Oder zumindest ein paar Handschellen und den Einhorn-Ballon.

Chilbi ist auch ein Trainingslager für Eltern

Die Chilbi konserviert nicht nur unsere Kindheit, sie ist auch ein Bootcamp für Erziehungsberechtigte. «Eine grosse Bahn, nicht zwei, wir haben es abgemacht, meine Kleine.» Irgendwann versucht man den Kompromiss, weil das Geheule noch schlimmer ist als das Musikchaos von den verschiedenen Bahnen. «Dafür gibt’s noch Pommes, okay?» «Zuckerwatteee!», schreien sie, und die Eltern überlegen, ob sie nun eine Kindheit zerstören, wenn es an dieser Chilbi keine Zuckerwatte gibt. Wahrscheinlich schon.

Das Gefühl des Erwachsenseins ist zu diesem Zeitpunkt leider zurück in den Körper geschlüpft. Ich vergegenwärtige mir, dass auf diese Chilbi noch viele weitere folgen werden. Wir setzen uns unter einen Baum ins Gras und essen eine Wurst, original und «planted» und Pommes. Die Zehen und Sandalen sind grau gepudert vom Staub, der Puls sinkt langsam wieder. Fertig Eskapismus.

Die Erwachsenen reden darüber, wie viel Zentimeter tiefer der Pegel eines Staudammes nach einem Tag Stromverbrauch durch eine Chilbi sei und was die jungen dunkelhäutigen Männer, welche die Bahnen am Laufen halten, wohl arbeiten, wenn die Chilbi vorbei ist. Die Kinder beten zwischen zwei Bissen ihr Chilbi-Konsum-Mantra weiter, mit schwindender Vehemenz.

An der Bushaltestelle blicke ich zum Karussell auf 80 Metern Höhe zurück. Warum war ich dort nicht? Warum nur auf der Oktopusbahn für 4 Franken? 12 Franken sind doch nicht viel für ein Flug wie im Märchen! Früher, als man komplett im Moment lebend ALLES Geld, das man bei den Erwachsenen erbettelt hatte, und ALLES, was das Sparschwein hergab, einfach ausgegeben hat, war es irgendwie geiler.

Verwandte Themen