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Der Fall einer vergewaltigten 10-Jährigen, die nicht abtreiben durfte, schockierte Amerika – das droht ihrem Vergewaltiger

Die Geschichte eines Mädchens aus Ohio, das nach einer Vergewaltigung in einen Nachbarstaat reisen musste, um die ungewollte Schwangerschaft abzubrechen, ging um die Welt. Viele Abtreibungsgegner zogen den Vorfall aber in Zweifel. Zu Unrecht.

Die Frauenärztin Caitlin Bernard aus Indianapolis (Indiana) erhielt Ende Juni einen Anruf einer medizinischen Fachperson aus dem Nachbarstaat Ohio. Sie habe eine 10 Jahre alte Patientin, die nach einer Vergewaltigung sechs Wochen und drei Tage schwanger sei, sagte die Person. In Ohio seien Abtreibungen neuerdings aber nur noch bis zur sechsten Woche erlaubt und Ausnahmen selbst bei Vergewaltigungen von Kindern nicht vorgesehen. Ob Bernard weiterhelfen könne?

Sie konnte und sie wollte. Das Kind reiste nach Indiana, wo das Abtreibungsrecht vorderhand noch liberal ist, und die Frauenärztin brach die ungewollte Schwangerschaft Anfang Juli ab. Bernard erzählte die Geschichte der Lokalzeitung «Indianapolis Star» – ein weiteres Beispiel für die drastischen Folgen eines Grundsatzurteils des Supreme Court in Washington, der Ende Juni das nationale Recht auf Abtreibungen gekippt hatte.

Die Story stach vielen Leserinnen und Lesern ins Auge. Medien in Grossbritannien, Israel und auch der Schweiz griffen sie auf, und wiederholten dabei die Aussagen Bernards, die als einzige Person öffentlich über den Vorfall sprach. Vor einigen Tagen erwähnte selbst Präsident Joe Biden, während einer Ansprache im Weissen Haus, das junge Mädchen aus Ohio. «Zehn Jahre alt. Vergewaltigt, sechs Wochen schwanger. Bereits traumatisiert. Musste in einen anderen Staat reisen. Stellen Sie sich vor, Sie wären das kleine Mädchen», sagte der Demokrat.

Glaubwürdigkeit der Frauenärztin in Frage gestellt

Biden nutzte die Geschichte, um Stimmung gegen «reaktionäre» Republikaner zu machen, die Schwangerschaftsabbrüche im ganzen Land verbieten wollten. Die Antwort dieses Lagers liess nicht lange auf sich warten. Es stellte kurzerhand die Glaubwürdigkeit der bekannten Abtreibungsbefürworterin Bernard in Frage – um Zweifel an der «Pro Choice»-Bewegung zu wecken, die sich für eine landesweite Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen einsetzt.

So sagte der Justizminister von Ohio noch am Dienstag in einem Interview mit einer Gruppe von Lokalzeitungen: Er liege nicht der Hauch eines Beweises vor, dass sich der von Bernard beschriebene Vorfall ereignet habe. «Mit jedem Tag, der vergeht, wird es wahrscheinlicher, dass dies eine Erfindung ist», sagte Dave Yost, ein Republikaner und Abtreibungsgegner.

Einige seiner Parteifreunde gingen einen Schritt weiter und beschuldigten den «Indianapolis Star», gezielt eine Falschmeldung verbreitet zu haben. Stark aus dem Fenster lehnte sich auch die Wirtschaftszeitung «Wall Street Journal». Das renommierte Blatt publizierte in der Mittwochsausgabe einen Meinungsbeitrag, in dem sie Biden beschuldigte, mit Hilfe einer «unwahrscheinlichen» Geschichte die Emotionen der linken Hälfte Amerikas zu schüren.

27 Jahre alter Mann gesteht zwei Vergewaltigungen

Am Mittwoch zeigte sich aber nun: Der von Bernard beschriebene Vorfall hat sich so ereignet. In einem Lokalgericht in Columbus (Ohio) führten die Ermittlungsbehörden einen 27 Jahre alten Mann aus Zentralamerika vor, der ein heute 10 Jahre altes Mädchen zweimal vergewaltigt haben soll. Das Kind sei daraufhin nach Indianapolis gereist, um eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen, sagte ein Polizist vor Gericht.

Der Anwalt des Beschuldigten argumentierte zwar, bisher liege kein medizinischer Beweis dafür vor, dass der Mann für die Schwangerschaft des Kindes verantwortlich gewesen sei. (Das Resultat des DNA-Tests ist noch ausstehend.) Die Richterin beschloss nach einer halbstündigen Gerichtsverhandlung dennoch, den einzigen Verdächtigen – der sich ohne gültige Aufenthaltspapiere in den USA aufhalten soll – vorderhand hinter Gittern zu behalten. Sie setzte die Kaution auf hohe 2 Millionen Dollar fest.

Keine Entschuldigung von Ohios Justizminister

Justizminister Yost zeigte sich einer knappen Stellungnahme zufrieden darüber, dass es der Polizei gelungen sei, einen geständigen Vergewaltiger festzunehmen. Der Republikaner drückte sein Mitgefühl für das Opfer aus, ohne sich für seine früheren Aussagen zu entschuldigen.

Der Justizminister von Indiana wiederum, der Republikaner Todd Rokita, kündigte umgehend eine Untersuchung gegen Caitlin Bernard an. Auf dem Fernsehsender Fox News drohte er der Abtreibungsärztin den Lizenzentzug an, weil sie angeblich die Vergewaltigung eines Kindes nicht gemeldet hatte. (Die zuständige Sozialbehörde in Columbus wusste seit dem 22. Juni, dass die 10-Jährige schwanger war. Auch die Polizei war informiert. In Ohio werden sämtliche Sexualkontakte mit Kindern, die jünger als 13 Jahre sind, gesetzlich als Vergewaltigungen bezeichnet.)

Rokita nutzte seinen Fernsehauftritt auch, um gegen die «Marxisten und Sozialisten» zu wettern, die sich nicht um die Sicherung der amerikanischen Grenze kümmerten und die nicht energisch genug gegen Sans Papiers vorgingen. «Und das Mädchen war politisiert worden, politisiert, weil noch mehr Babys getötet werden sollen, nicht wahr?» sagte der Republikaner.