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35-Jähriger soll 16-jährige Transgender-Person vergewaltigt haben – Obergericht hebt Abbruch des Verfahrens auf

Das mutmassliche Opfer beschuldigt einen fast zwanzig Jahre älteren Mann, es an seinem 16. Geburtstag vergewaltigt und bereits davor zu sexuellen Handlungen aufgefordert zu haben. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Mit dem am 1. Juli in Kraft tretenden neuen Sexualstrafrecht wäre das wohl nicht passiert.

Vor zwei Jahren erstattete Sascha (Name geändert) bei der Kantonspolizei Aargau Strafanzeige wegen Vergewaltigung. Er beschuldigte einen 35-jährigen Mann, die Tat an seinem 16. Geburtstag begangen zu haben. Zu diesem Zeitpunkt wurde Sascha noch als weiblich betrachtet. Inzwischen hat er sein Geschlecht offiziell auf männlich geändert. Er gab weiter an, dass der Beschuldigte schon vor seinem Geburtstag «etwas gemacht hat».

Diese Informationen gehen aus einem vor kurzem veröffentlichten Entscheid des Aargauer Obergerichts hervor. Es beschäftigte sich mit dem Fall, weil die Staatsanwaltschaft Baden das Verfahren letzten Herbst eingestellt hatte, Sascha dagegen aber Beschwerde einreichte. Die Behörde begründete die Einstellung damit, dass er keine konkreten Ausführungen zu den Handlungen vor seinem Geburtstag gemacht habe und auch nicht genau sagen konnte, was passiert war. Er habe nur angeben können, dass der Beschuldigte «meistens etwas gemacht» habe.

Die Ermittlungsbehörde hielt diese Aussagen für zu vage, um dem Beschuldigten ein bestimmtes strafbares Verhalten vorwerfen zu können. Und schrieb dazu: «Dies auch vor dem Hintergrund eines möglichen Traumas.»

Über die angebliche Vergewaltigung an seinem 16. Geburtstag konnte Sascha detaillierter berichten. Er gab an, dass er vor und währenddessen mehrmals deutlich gemacht habe, den Geschlechtsverkehr nicht zu wollen, indem er ein sogenanntes «Safeword» benutzte. Der Beschuldigte behauptet, dieses nicht gehört zu haben. Ein solches Wort wird oft vereinbart, wenn sexuelle Praktiken angewendet werden, die auf Macht, Kontrolle oder Schmerz basieren, um zu signalisieren, dass alle Handlungen gestoppt werden sollen.

Wie sich die Vergewaltigung laut Sascha abgespielt haben soll, erfülle den objektiven Tatbestand aber nicht, so die Staatsanwaltschaft. Das möge für Opfer zwar stossend erscheinen, widerspiegle aber die aktuelle Rechtslage, «wo ein ‹Nein› zum Geschlechtsverkehr nicht ausreiche, um den Tatbestand der Vergewaltigung zu erfüllen». Nach geltendem Recht liegt eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung erst dann vor, wenn das Opfer zu sexuellen Handlungen gezwungen wird, sei es durch Bedrohung oder Gewalt. Diese Voraussetzung wird sich mit dem neuen Sexualstrafrecht ändern, das am 1. Juli in Kraft tritt.

«Nicht Sache der Staatsanwaltschaft, darüber zu entscheiden»

Von dieser Änderung kann Sascha noch nicht profitieren. Sein Anwalt argumentierte vor Obergericht damit, dass es nicht an der Staatsanwaltschaft sei, abschliessend über die Glaubwürdigkeit der Aussagen zu urteilen. Stattdessen solle Anklage erhoben und das Verfahren fortgesetzt werden.

Obwohl er während einer Videobefragung oft nicht geantwortet habe, würden Chatverläufe und Aussagen der Parteien sowie einer Zeugin darauf hindeuten, dass es bereits vor seinem 16. Geburtstag zu sexuellen Handlungen mit dem Beschuldigten gekommen sein könnte. Sascha führt weiter aus, dass seine emotionale Belastung zum Zeitpunkt der Befragung sehr hoch gewesen sei, nach einem stationären Aufenthalt, einem Suizidversuch und mitten in einer ambulanten Psychotherapie. Daher sei es notwendig, ihn erneut zu befragen und die Untersuchung fortzusetzen.

Zusätzlich sieht er in einer schriftlichen Konversation zwischen ihm und dem Beschuldigten Hinweise darauf, dass dieser ihn zu sexuellen Handlungen verleitet habe und dass Schläge auf das Gesäss, auch Spanking genannt, als sexuelle Handlungen einzustufen seien. Die Kantonspolizei Aargau unterstütze diese Einschätzung in ihrem Rapport. Der sich als «Meister» aufdrängende Beschuldigte habe ein psychisches Machtverhältnis ausgenutzt, was durch die psychische Verfassung und Saschas dokumentierten Suizidversuch belegt sei.

Der Beschuldigte erwiderte darauf, dass sich Saschas seit 2019 andauernde Behandlung eher auf eine Transgenderproblematik als auf sein angebliches Verhalten beziehe. Er wehrte sich gegen die Vorwürfe und war der gleichen Meinung wie die Staatsanwaltschaft, dass eine Anklage wahrscheinlich zu einem Freispruch führen würde.

Machtverhältnis sei nicht berücksichtigt worden

Das Obergericht ist davon nicht überzeugt. Es stellt sich auf die Seite von Sascha und weist den Fall zurück an die Untersuchungsbehörde. Die Staatsanwaltschaft solle nicht abschliessend darüber urteilen, ob der Beschuldigte schuldig ist, sondern nur prüfen, ob genügend Anhaltspunkte für eine Weiterführung des Verfahrens vorliegen.

Rechtlich müsse zwischen den Ereignissen vor und nach Saschas 16. Geburtstag unterschieden werden. Vorher gehe es um den Schutz Minderjähriger, danach um Angriffe auf die sexuelle Freiheit. Das Gericht bemängelt, dass die Staatsanwaltschaft seine mögliche psychische Zwangslage nicht berücksichtigt hat. Das Machtverhältnis müsse bei der Bewertung von Saschas Aussagen einbezogen werden. Psychischer Druck könne auch ohne körperliche Gewalt entstehen, wenn das Opfer sich nicht mehr selbst schützen könne und sein sexuelles Selbstbestimmungsrecht gefährdet sei.

Ob eine Nötigung vorliege, könne nur nach gründlicher Prüfung entschieden werden. Sascha habe konsistente Aussagen gemacht, die glaubwürdig wirken. Wegen der unklaren Beweislage vor seinem 16. Geburtstag sei eine gerichtliche Klärung nötig. Da es sich um schwerwiegende Vorwürfe handle, könne das Verfahren nicht eingestellt werden.