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Ein starkes Tabu: Geistig behinderte Menschen werden kaum aufgeklärt

Menschen mit Behinderung wissen in der Schweiz oft nicht, wie Kinder entstehen oder warum sie einmal im Monat Bauchschmerzen haben. Selbst ihre Betreuungspersonen sind mit der sexuellen Aufklärung überfordert. Das zeigen diverse Beispiele.

Eins war für die junge Frau klar: Sie wollte den Fötus in ihrem Bauch auf keinen Fall behalten. Als er gezeugt wurde, war sie betäubt, eine schlaffe Masse Mensch durch die K.-o.-Tropfen, die der Vergewaltiger ihr gegeben hatte. Er wohnte bei ihr um die Ecke, aber sie sah ihn zum ersten Mal im Gerichtssaal. Er hatte sich an ihr bedient, einer Frau mit kognitiver Beeinträchtigung.

Die junge Frau vereinbarte einen Schwangerschaftsabbruch. Die Gynäkologin erklärte ihr, was dabei passiert, doch die junge Frau verstand den Prozess nicht. Sie wusste, was er bedeutete, nämlich dass der Fötus in ihrem Bauch weggemacht wurde. Aber wie? Sie suchte anderweitig nach Antworten. Und fand sie bei Claudia Schwingruber.

Claudia Schwingruber, Projektleiterin Kompetenzzentrum Sexuelle Gesundheit (SeGe) St. Gallen.
Bild: zvg

Schwingruber ist Leiterin des Kompetenzzentrums für sexuelle Gesundheit in St. Gallen. «Meine Klientin hätte regelmässige Wiederholung und Bilder gebraucht, um das Gesagte wirklich verstehen und ins Leben integrieren zu können», sagt Schwingruber. Etwas, das die Gynäkologin offenbar nicht bieten konnte. Und das ist kein Einzelfall.

Gesundheitspersonal fehlt Fachwissen, Erfahrung und Zeit

Vor elf Jahren ist die UNO-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten. Die Schweiz hat sie mitunterschrieben und verpflichtet sich dadurch, die Inklusion von Menschen mit Behinderung zu fördern und Diskriminierung zu bekämpfen.

Doch die Gesundheitsversorgung ist für Menschen mit Behinderungen insgesamt schlecht zugänglich, schreibt Insieme, die Dachorganisation der Elternvereine für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung liege das Problem unter anderem darin, dass das Gesundheitspersonal mangelnde Erfahrung und fehlendes Wissen im Umgang mit ihnen habe.

Zudem fehlt es im Gesundheitswesen allgemein an Zeit. Menschen mit einer kognitiven oder körperlichen Behinderung brauchen mehr Zeit bei Arztterminen. Der Mehraufwand kann aber oft nicht über die Krankenkasse abgerechnet werden, Ärztinnen und Ärzte arbeiten in solchen Fällen gratis.

Wer klärt Menschen mit Behinderung auf?

Das gesellschaftliche Tabu um die Sexualität belastet die sexuelle Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung zusätzlich.

Es beginnt schon in der Aufklärung: Während Menschen ohne Behinderung meist nicht nur in der Schule, sondern auch vom Internet oder von Freundinnen und Freunden aufgeklärt werden, sind gerade Menschen mit kognitiver Behinderung stark von Fachpersonen abhängig.

Sexualkundeunterricht ist zwar in heilpädagogischen Schulen wie in Regelschulen Teil des Lehrplans. Doch es ist von der jeweiligen Lehrperson abhängig, wie genau dieser durchgeführt wird. In gewissen Kantonen scheint das ganz gut zu funktionieren, wie zum Beispiel im Aargau.

Sibylle Ming, Fachfrau für sexuelle Gesundheit in Bildung und Beratung bei der Fachstelle Sexuelle Gesundheit Aargau (Seges), führt hier gemeinsam mit einem Kollegen Sexualpädagogikunterricht durch. «Wir werden verhältnismässig sogar mehr von heilpädagogischen Schulen gebucht als von Regelschulen», sagt sie.

Sibylle Ming ist Fachfrau für sexuelle Gesundheit in Bildung und Beratung (SGCH) bei der Fachstelle Sexuelle Gesundheit Aargau (Seges).
Bild: Karin Furter

Doch das sei nicht in allen Kantonen so. Im Aargau wurde die Prävention in den Heimen stark verbessert, nachdem 2010 der Fall Nische bekannt wurde.Ein Sozialtherapeut hatte über Jahre in mehreren Heimen Kinder und Menschen mit Behinderung missbraucht.«Danach hat der Kanton alle Institutionen für Menschen mit Beeinträchtigung verpflichtet, ein Sexual- und Präventionskonzept zu schreiben. Dazu gehört die Schulung der Mitarbeitenden und die sexuelle Bildung der Bewohnerinnen und Bewohner», sagt Ming.

Paradoxerweise führt das Thema sexuelle Übergriffe aber oft zu einer gegenteiligen Reaktion. Anstatt mehr in Bildung zu investieren, versuchen einige, das Thema von den Kindern fernzuhalten. Mit teilweise schwerwiegenden Folgen: Die Forschung zeigt, dass fehlende Aufklärung zu mehr ungewollten Schwangerschaften und zu früheren sexuellen Erfahrungen führt. Sie bewirken auch, dass sexuelle Übergriffe nicht als solche erkannt werden.

Menschen mit Behinderung werden bezüglich Sex wie Kinder behandelt

«Das Fachpersonal in Institutionen ist oft mit der Thematik überfordert, möchte sie aber auch nicht angehen», meint Schwingruber. Sie hätten Angst davor, Grenzen zu überschreiten oder Klientinnen und Klienten zu etwas zu drängen. Aber teilweise haben sie auch Angst vor der Reaktion der Eltern.

Schwingruber nennt folgendes Beispiel: Ein erwachsenes Paar trifft sich in einer Institution regelmässig zu zweit im Zimmer. Die Betreuungspersonen wissen nicht, was sie dort machen und welche Regeln sie aufstellen sollen. Sie befürchten eine ungewollte Schwangerschaft. Den Eltern des Paares möchten sie nichts von der Beziehung sagen, weil diese streng katholisch sind und beide aus der Institution nehmen könnten.

Oder ein weiteres Beispiel: Ein 40-jähriger Mann hat endlich eine Freundin, mit der er auch Sex hat. Er ist im siebten Himmel, die Eltern glauben aber, die Freundin würde ihn vergewaltigen. Sie sind der Überzeugung, ihr Sohn sei noch ein Kind und wolle keinen Sex.

Gesellschaftlich herrscht die falsche Annahme vor, dass Menschen mit Behinderung keinen Sex haben möchten oder können.
Symbolbild: Getty

«Grundsätzlich ist es beim Thema Sex von Menschen mit kognitiver Behinderung immer eine Balance zwischen Schutz und Selbstbestimmung, die gehalten werden muss», sagt Ming. Einerseits müsse man vulnerable Personen vor Übergriffen schützen, andererseits sollte man ihre Autonomie nicht unnötig einschränken.

«Wir sind weg von der Zwangssterilisation hin zur Zwangsverhütung gekommen. Teilweise werden Frauen verhütet, obwohl sie keinen Sex haben, einfach weil die Eltern oder die Institution Angst vor ungewollter Schwangerschaft haben», sagt Ming. Gleichzeitig haben manche Eltern und auch Fachpersonen die falsche Überzeugung, dass Menschen mit Behinderung grundsätzlich nicht sexuell aktiv sind.

Exemplarisch ist auch der Erfahrungsbericht von Charlotte Zach, einer jungen Rollstuhlfahrerin. Auf der Website cerebral-love.ch schildert Zach, wie sie mit zwanzig Jahren zum ersten Mal bei einer Gynäkologin war. Die Praxisassistentin sprach nur mit ihrer Mutter, nicht mit Zach selbst.

Dabei ist Zach nur körperlich, nicht kognitiv beeinträchtigt. Die Gynäkologin sprach mit ihr «wie mit einem Kindergartenkind», strich ihr bei der Untersuchung über die Wange und sagte der Mutter: «Sie haben eine ganz süsse Tochter! So entzückend.» Zach erstarrte: «Meine Fragen nach Vaginismus, nach Sexstellungen, nach Spastik beim Sex blieben mir im Halse stecken.»

Einzelne gynäkologische Praxen haben Extra-Sprechstunden für Menschen mit Behinderung

Doch es gibt nicht nur negative Beispiele: Schwingruber ist wichtig zu betonen, dass viele Eltern einen sehr guten Umgang mit dem Thema hätten. Und Angebote wie von Schwingruber und Ming federn den Mangel an sexueller Gesundheitsversorgung und Aufklärung für Menschen mit Behinderung etwas ab.

Betreuungspersonen sind oft überfordert, wenn es um das Thema Sex von Menschen mit Behinderung geht.
Symbolbild: Getty

Bei der FFSG in Fribourg ist die Nachfrage nach Beratungen so hoch, dass es zu längeren Wartezeiten kommen kann. Beim Kompetenzzentrum für sexuelle Gesundheit in St. Gallen lässt der grosse Ansturm noch auf sich warten, was jedoch daran liegen könnte, dass das Angebot relativ neu ist und nicht über kantonale Gelder finanziert wird.

Ming führt eine Liste von behindertengerechten Gynäkologinnen und Gynäkologen. Bei der Freiburger Fachstelle für sexuelle Gesundheit (FFSG) bieten zwei Gynäkologinnen Sprechstunden für Menschen mit Behinderungen an. Auch eine Sprechstunde im Spital Zollikerberg, die seit Ende 2024 läuft, verschafft etwas Abhilfe.

Gegründet hat sie die Gynäkologin Karin Lindauer. Wie sie gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagt, nimmt sie sich für die Patientinnen Zeit, ihre Bedürfnisse zu verstehen. Auch wenn sich diese nur mit grosser Mühe mitteilen können. Und sie nimmt sie ernst. Ein Projekt, das hoffentlich Nachahmer findet.