
«Es ist, als hätte es Blatten nicht gegeben»: Das Dorf sucht sich nach der Katastrophe selbst
Es ist still im Walliser Lötschental. An der Talstation der Lauchernbahn in Wiler steht eine Wandergruppe in Karohemden und beigen Berghosen, teilt Wortfetzen: Gipfelnamen, Temperaturangaben, Sonnencreme. «Der Höhenwanderweg ist geschlossen», sagt die Verkäuferin zu jedem Einzelnen an der Kasse. Der Motor der Seilbahn brummt leise. Sonst: nichts.
In der Bahn, zwischen den Touristen, steht eine Frau, sie fährt die Strecke oft. Seit vier Wochen blickt sie von der Seilbahn aus auf die klaffende Lücke am Hang gegenüber. Mustert die türkisen Kurven, die der Fluss durch die graubraune Brache zieht. Manchmal, sagt sie, könne sie es immer noch nicht fassen: «Dann denke ich, das kann nicht wirklich passiert sein. Das ist nicht echt.»
Manchmal aber scheine das Tal von hier aus fast friedlich. Dann fühle es sich an, als hätte es nie anders ausgesehen. Sie schüttelt den Kopf: «Als hätte es das Dorf Blatten nie gegeben.»
Esther Bellwald will nicht daran denken, was unter dem Geröll liegt. Mit dem Hotel Nest- und Bietschhorn hat sie nicht nur ihren Betrieb, sondern auch ihr Elternhaus, ihre Heimat an den Bergsturz verloren.
Eigentlich gebe es viel zu tun: Versicherungsanträge zu schreiben, Mails von Partnern und Gästen zu beantworten. Doch gerade falle ihr das schwer, sagt Bellwald. Zu viele Erinnerungen kommen dabei hoch – an gemeinsame Momente, an die Zimmer- und Tischpräferenzen bestimmter Gäste, an den Alltag.
Bellwald ist mit ihrer Familie in einer Ferienwohnung in Wiler untergekommen. Dort sucht sie ihre Struktur im Alltag, im Schulrhythmus der Kinder. Sie organisiert neue Fahrräder, neue Kleider, eine grössere Wohnung am Waldrand. Wie weit sie in die Zukunft denken mag, schwankt von Woche zu Woche.
Am Berg löst sich immer noch Gestein
Auf der Seilbahnfahrt in Richtung Lauchernalp sieht man den See nicht, zu dem sich die Lonza hinter der Schuttmulde aufgestaut hat. Beinahe geräuschlos mündet der Fluss in den See. Lauter sind die Fliegen, die sich am stehenden Wasser sammeln. Ab und zu quietscht das Plastik gelber Schläuche.

Bild: Jean-Christophe Bott/Keystone
Die Pontonniere der Armee fischen mit denen zwischen überschwemmten Chalets und Mehrfamilienhäusern das aus dem Wasser, was von Blatten an der Oberfläche treibt: abgebrochene Balkongeländer und Regenrinnen, Holzstücke, die sich kaum zuordnen lassen, Kleider, Spielzeug. Das Wasser ist trüb, man weiss kaum, wie tief; noch weniger, was darunterliegt – Häuser, Gartenmauern, Autos.
An dem, was vom kleinen Nesthorn übrig ist, löst sich immer noch Schutt. Mittlerweile ist die Bewegung kleiner geworden: Vor dem Bergsturz verschob sich das Gestein um mehrere Meter pro Tag, heute liegt die tägliche Bewegung im Bereich von einigen Dezimetern. Aus dem Schutt im ehemaligen Gletscherbett unterhalb des Nesthorns lösen sich immer wieder Murgänge – auch wenn sie die ehemalige Gletscherfront nicht überfliessen.
Auch am gegenüberliegenden Hang ist das Gelände nicht stabil. Von den 9 Millionen Kubikmetern an Gestein ist ein Teil bis nah an die verbleibenden Weiler hochgerollt. Darunter gibt es nichts mehr, um die Masse zu stabilisieren. Alles rutscht. Immer.
Touristen sind erwünscht – aus Solidarität
Die Schuttmasse selbst darf auch einen Monat nach dem Bergsturz noch niemand betreten. Jeden Morgen werden die Pontonniere in Fünfergruppen mit dem Helikopter zum See geflogen. Etwa 110 Sekunden lang rattern sie das Tal hinauf; und auch das nur, wenn die Sonne scheint. Sobald das Wetter leicht umschlägt, fliegen sie zurück. «Kein unnötiges Risiko», fasst der Einsatzleiter zusammen. Der zuständige Staatsrat Stéphane Ganzer sagt: «Es gibt hier nur einen Chef: die Natur.»
Klassische Gaffer gebe es im Lötschental nicht, sagt der Lötschentaler Tourismuschef Mathias Fleischmann. Im Gegenteil, viele Gäste hätten sich zurückhaltend verhalten. Angerufen, um nachzufragen, ob man überhaupt noch kommen dürfe. «Ja, bitte», sagt Fleischmann. Das Tal zu besuchen, dort Geld auszugeben, sei eine wichtige Form der wirtschaftlichen Solidarität.
Bisher verlaufe der Juni – zahlenmässig – normal, sogar etwas besser als im Vorjahr. Viele Sonnentage und hohe Temperaturen locken die Leute zu Tagesausflügen in die Höhe. Illusionen macht sich Fleischmann deswegen nicht: «Der Einbruch wird massiv.»
Von der Strassensperre in Wiler aus sieht man gelbe Bagger, die in den Weilern an den Hängen immer wieder Gestein abtragen. Neben der Schuttmasse sehen sie winzig aus.
Zwei Drittel weniger Übernachtungen in Sicht
Hinter dem verschütteten Blatten liegt das Hotel Fafleralp. Das Gebäude blieb vom Bergsturz verschont. Damit gibt es auch keine Schäden, welche die Versicherungen übernehmen würden.
Gäste empfangen kann das Hotel trotzdem nicht. Es ist vom übrigen Tal abgeschnitten: keine Stromversorgung, kein Abwasser, kein Zugang. Bis Mai 2026 bleibt das Hotel Fafleralp geschlossen.
Derzeit laufen die Arbeiten für eine Erschliessungsstrasse zu den Weilern, die nach wie vor vom übrigen Tal abgeschnitten sind. Eine reine Notstrasse. Für den allgemeinen Verkehr wird sie nicht freigegeben. Und damit auch nicht für Touristen. Die Hotelchefin will sich dazu nicht äussern.
Neben der Fafleralp sind auch drei von vier Berghütten im Gebiet gesperrt. Drei Hotels sind verschüttet worden, mehrere Campingplätze befinden sich in der Sperrzone. 100’000 Übernachtungen verzeichnet das Lötschental normalerweise im Sommer. In diesem Jahr werden es zwei Drittel weniger, so Fleischmann.
«Wir können nicht warten, bis wieder gebaut wird»
Noch grösseres Kopfzerbrechen als der Sommer bereitet ihm der Winter. Dann sei der Platz ohnehin schon knapp gewesen. Wenn nun ein Teil der Ferienwohnungen für die Evakuierten benötigt werde und viele Betten fehlen, so werde man die Verluste – wenn überhaupt – nur mit Tagesgästen etwas kompensieren können.
Und doch scheint das Tal – in aller Stille – nicht stehen bleiben zu wollen. Gerade mal einen Monat nach dem Bergsturz blickt auch die Hotellerie vor allem in eine Richtung: vorwärts.
Diese Katastrophe sei auch eine Chance, sagt Lukas Kalbermatten, ebenfalls Blattner Hotelier. Auch ihn haben die vergangenen Wochen ermüdet: «Ich muss gerade auch keine Bäume ausreissen.»
Es werde mehrere Jahre dauern, bis in Blatten klar werde, was touristisch möglich sei, so Kalbermatten. Deshalb brauche man sofort Perspektiven für das ganze Tal und dann eine Strategie für das Dorf. So könne man die Beherbergung für das ganze Tal neu ausrichten: «So, dass es für alle und gemeinsam gut weitergehen wird.»
Auch Esther Bellwald will nicht aufgeben. Ihr Partner hat in diesen Tagen einen Kurs an einer renommierten Kochschule in Paris besucht, ein lang gehegter Traum. Auch sie will sich weiterbilden, Lösungen suchen: «Wir können nicht warten, bis in Blatten wieder gebaut wird.»
Zuerst aber will Bellwald mit ihrer Familie fort. Drei Wochen, die ersten Sommerferien mit den Kindern überhaupt. Im Camper, irgendwohin. Hauptsache, weg. Distanz finden. Die Dinge ruhen lassen, die Stille im Tal hinter sich lassen. Und dann zurückkehren. Um zu bleiben.