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Lebensgefahr nach Routine-Operation – Aargauerin verklagt Ärztin auf über 1 Million Franken

Eine Fachärztin entfernt bei einem Routineeingriff nebenbei einen Polypen an der Darmwand einer Patientin, ohne dass diese zustimmen kann. Diese schwebt wenige Tage später in Lebensgefahr. Ist die Ärztin schuld? Mit dieser Frage haben sich nach dem Bezirks- und Obergericht auch die Bundesrichter in Lausanne befassen müssen.

Jede Operation birgt ein Risiko – auch wenn es noch so klein ist. In diesem Sinn hatte eine Frau aus dem Aargau enormes Pech: Sie unterzog sich bereits im Juli 2010 in einer Arztpraxis einem Routineeingriff. Bei der sogenannten Koloskopie behandelte die Ärztin mehrere Hämorrhoiden mit fünf Gummibandligaturen. Dabei entfernte sie einen Polypen, den sie zufällig im Darmsigma der Patientin vorfand. Ein solcher Polyp kann Darmkrebs auslösen.

Die Patientin klagte nach der Operation über Schmerzen, erst im Unterbauch, einen Tag später im Oberbauch. Ihr Lebenspartner rief in den folgenden Tagen mehrmals in der Praxis an und schilderte, dass sich die Schmerzen in den Oberbauch verlagerten, dass sie stark seien und zusätzliche Symptome wie Erbrechen und Fieber aufgetreten seien. Fünf Tage nach der Operation wurde die Patientin ins Spital gebracht. Ein Notfalleingriff wurde nötig. In den nächsten Wochen folgten weitere Operationen, eine nach einer zwischenzeitlichen Entlassung aus dem Spital.

Lange Zeit im Notfall

Im November 2017 reichte die Patientin Klage beim Bezirksgericht Aarau ein. Der Vorwurf: Das Entfernen des Polypen habe zu einer Perforation der Darmwand geführt. Diese habe «massivste Schmerzen», einen «lebensbedrohlichen Zustand», eine «langwierige, komplikationsbehaftete Notfallbehandlung mit bleibenden grossen Narben», depressive Störungen und «verschiedenste psychosomatische Beschwerden» zur Folge gehabt.

Die Patientin warf der Ärztin eine Verletzung ihrer Aufklärungs- sowie der Sorgfaltspflicht vor. Sie habe der Entfernung des Polypen nicht zugestimmt. Diese sei somit rechtswidrig durchgeführt worden. Zudem habe die Ärztin das Risiko einer Darmwandperforation verkannt und diese nach der Behandlung weder bemerkt noch adäquat therapiert. Die Klägerin reichte ein Gutachten von zwei Medizinern ein. Sie forderte Schadenersatz und eine Genugtuung von insgesamt rund 1,15 Millionen Franken.

Das Bezirksgericht wies die Klage ebenso ab wie das Obergericht. Nach der Beschwerde der Patientin wurde die Klage ein Fall für das Bundesgericht. Dieses hält in seinem schriftlichen Urteil fest: Für einen chirurgischen Eingriff brauche es die Einwilligung des Patienten. Ansonsten gelte der Eingriff als widerrechtlich und der Arzt habe für allen Schaden aufzukommen, der in kausalem Zusammenhang mit dem Eingriff steht, auch wenn dieser sachgemäss durchgeführt worden ist.

Das Bundesgericht stellt zwar – wie das Obergericht – weiter fest, dass die fremdsprachige Patientin nicht ausreichend – also «nicht in einer ihr verständlichen Sprache» – über die Behandlung und deren Risiken informiert worden ist. Es hiess aber wie die Vorinstanz den sogenannten Einwand der hypothetischen Einwilligung der Ärztin gut.

Diesen Einwand gesteht das Bundesgerichts gemäss eigener Rechtsprechung einem Arzt zu, falls der nicht nachweisen kann, einen Patienten ausreichend informiert zu haben. Dabei ist davon auszugehen, dass sich ein vernünftiger Patient bei einer Aufklärung zur Operation entschlossen hätte. Für diesen Fall bedeutete das: Die Patientin musste plausibel erklären, wieso sie dem Eingriff nicht zugestimmt hätte. Dabei gilt: Je geringer das Restrisiko eines Eingriffs, desto mehr muss ihre Argumentation überzeugen.

Risiko in 18 von 100’000 Fällen

Die Patientin brachte vor, sie hätte den Polypen sicher nicht an jenem Tag und von dieser Ärztin entfernen lassen und sich eine Bedenkzeit genommen. Das erscheine nachgeschoben, konstatiert das Bundesgericht. Es liessen sich keine plausiblen persönlichen Gründe, Haltungen oder Überzeugungen feststellen, dass die Frau in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre und die Polypenentfernung abgelehnt oder aufgeschoben hätte.

Das Bundesgericht stützt weitere Begründungen des Obergerichts. Dieses hatte festgehalten, dass die gastroenterologische Fachärztin ohne weiteres in der Lage gewesen sei, einen Polypen zu entfernen. Und dass mit der Darmkrebsvorsorge ein handfester medizinischer Grund vorgelegen habe. Ein Spezialist werde für diesen Eingriff grundsätzlich nicht beigezogen. Das Risiko einer Darmwandperforation bestehe bei einem solchen Eingriff auch ohne Entfernung des Polypen: Es liege bei 7 von 100’000 Fällen und bei deren 18 mit einer Polypen-Entfernung.

Vor Obergericht war ein weiterer Punkt umstritten: Die Patientin war der Ansicht, dass es unmittelbar nach dem Eingriff zur Perforation der Darmwand gekommen war und die Ärztin dies hätte erkennen müssen. Das Obergericht dagegen ging von einer späteren Drucksteigerung auf das Darmgewebe aus. Das sei «eindeutig», weil die Perforation nicht am Ort im Unterbauch, wo der Polyp entfernt wurde, aufgetreten sei, sondern an einer anderen Stelle im Oberbauch. Das Bundesgericht stützt das Urteil des Obergerichts auch in dieser Frage. Die Klage der Patientin hat es abgewiesen. Und ihr die Gerichstkosten von 7000 Franken auferlegt.

Urteil:4A_415/2023