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Die Skelette, die aus der Kälte kamen: Wie ein Aargauer Arzt einen florierenden Handel mit Skeletten aus Budapest betrieb

Der Aargauer Psychiater Martin Pfeffer fuhr als junger Medizinstudent während des Kalten Krieges regelmässig von München nach Budapest. Doch warum? Für die Liebe und für Skelette.

Es könnte eine Szene aus einem Film der Coen-Brüder sein: Skurril, surreal, morbid. Da schickte eine Gruppe Zöllner ihren jungen Kollegen nach unten an die Schranke der ungarisch-österreichischen Grenze, um den merkwürdigen Audi mit den Rallye-Streifen auf der Seite und dem Heckspoiler zu kontrollieren. Der Grenzbeamte warf erst einen strengen Blick in die Papiere des jungen Mannes hinter dem Steuer, dann in den Kofferraum. Und zurück blickten nicht einer, nein gleich mehrere Totenköpfe. Gebleckte Zähne, dunkle Augenhöhlen, blasse Schädel.

Der junge Zöllner schnellte im Angesicht des Todes zurück. Und seine Kollegen oben am Fenster krümmten sich vor Lachen. Sie kannten den Fahrer des Audis bereits, der seit einiger Zeit alle paar Wochen auftauchte, jedes Mal einige Skelette im Kofferraum oder auf der Rückbank. Es war das Jahr 1987, noch wussten die Grenzbeamte und der junge Mann hinter dem Steuer nicht, dass der Eiserne Vorhang, den die einen bewachten, der andere regelmässig passierte, bald fallen sollte.

Martin Pfeffer hat als junger Medizinstudent einen florierenden Skeletthandel betrieben. 
Bild: David Walgis

37 Jahre später jedenfalls ist der Kalte Krieg Geschichte, der junge Mann hinter dem Steuer längst kein Medizinstudent in München mehr, sondern ausgebildeter Erwachsenen- und Kinderpsychiater, den das Leben in die Schweiz verschlagen hatte. Als junger Assistenzarzt verdiente sich Martin Pfeffer in verschiedenen Spitälern im Raum Zürich und der Ostschweiz seine Sporen ab, später wurde leitender Oberarzt.

Heute ist der 58-Jährige Teil einer Praxisgemeinschaft in Baden. An einem Abend im Februar sitzt er am Esstisch in seiner Wohnung und blättert durch Fotos von früher. Vor allem aber erzählt er von seinem florierenden Skeletthandel zwischen Ostblock und freiem Westen. Von den Kunststoffskeletten, die aus der Kälte kamen.

Liebesgrüsse aus Budapest

Begonnen hatte alles damit, dass vier Medizinstudenten Anfang zwanzig bei einem Städtetrip in Budapest kein Bett mehr fanden. Die Stadt war voll mit zehntausend Pilgern aus Polen, die Hotels ausgebucht, die jungen Männer gestrandet an einem fremden Ort. Doch sie setzten ihren Charme ein. Die zwei ebenso junge Mitarbeiterinnen des Tourismusbüros boten ihnen nach einer Einladung zu einem Glace an, bei ihnen zu übernachten. Und am Abend lernte Pfeffer eine der Schwestern der beiden kennen. «Victoria und ich wurden schnell ein Paar. Da wusste ich, es gibt gute Gründe wiederzukommen.»

Die jungen Studenten wusste auch: In Ungarn sind die Kunststoffskelette mit Muskelansätzen zum Anatomielernen viel günstiger als in Deutschland. In München kosteten sie 750 Mark, in Budapest umgerechnet hingegen nur 125 Mark. Also besuchten er und seine Kollegen ein Skelettgeschäft in der Budapester Innenstadt. Mit vier Skeletten im Gepäck fuhren sie zurück nach München und wurden von ihren Mitstudenten und Kommilitoninnen beneidet.

Für Pfeffer war es eine Win-win-Situation: Er würde wiederkommen. Für Victoria. Für die Skelette. Im kommenden Jahr fuhr er die 700 Kilometer von München nach Budapest mindestens zwanzig Mal. Er kaufte jeweils drei, vier der Modelle, packte sie in den Kofferraum oder setzte sie auf die Rückbank, und verkaufte sie, zurück in München, für 450 Mark. «Sie haben 300 Mark gespart, ich hatte 300 Mark Gewinn – ein fairer Deal», sagt Pfeffer. Und die Benzinkosten, für einen Studenten eine Menge Geld, waren mehr als amortisiert.

Eine Frau wie aus einem James-Bond-Film

Bei einem seiner nächsten Besuche im Budapester Skelettgeschäft wartete eine Frau in grauem Hosenanzug auf Pfeffer. «Kennen Sie die James-Bond-Filme?», fragt der einstige Skeletthändler und heutige Psychiater am Esstisch. «Da gibt es ja manchmal diese kräftigen weiblichen russischen Militäroffiziere, bei denen James Bond froh war, dass er sie überlebt. Genau so sah die Frau aus.»

Die Militäroffizierin entpuppte sich als die freundliche Leiterin der Fabrik, in dem die Skelette hergestellt wurden. Sie führte Pfeffer durch die Produktionshalle, vorbei an an Frauen an langen Tischen, die Knochen um Knochen mit Draht zu Skeletten verbanden, in ihr Büro. Hier wartete bereits das Papier, das Pfeffer für sein Geschäft brauchte: die Bewilligung für den Export. 250 Modelle durfte er nun aus Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland ausführen. «Weit mehr, als ich überhaupt transportieren konnte.»

Das einbeinige Skelett

Der Skeletthandel des Martin Pfeffer war offiziell. Rund ein Jahr lang sollte er bestehen. Dann versiegte der Handel so schnell wieder, wie die Liebe zwischen Victoria und Pfeffer, zwischen Ost und West, entflammt war. Mit dem Ende ihrer Beziehung hatte Pfeffer weniger Gründe, regelmässig nach Budapest zu fahren, sein Staatssemester stand an, der Skeletthandel endete.

Was bleibt? Vielleicht eine Episode, die wiederum von den Coen-Brüdern geschrieben sein könnte. Einmal, so erzählt Pfeffer, habe er im Hotel bemerkt, dass eines der abgeholten Modelle nicht komplett war. Zehn Skelette hatte er im Laden gekauft, doch beim Umladen im Hotel bemerkte er: Da sind nur 19 Beine.

Also fuhr er zurück. Vor dem Geschäft war bereits ein Auflauf an Menschen, die Strasse abgesperrt, die Polizei vor Ort. «Und mein Bein steckte bis zum Knie in einem Gully, der Fuss in der Luft.» Pfeffer wollte sein fehlendes Gebein holen, die Polizei hielt ihn fest, ein Mitarbeiter des Skelettgeschäfts konnte die Situation schliesslich aufklären.