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Die Schweiz hat einen neuen «Jemensch»- Literaturstar

Äusserlich ist Kim de l'Horizon ein Paradiesvogel. Dass er mit seinem Roman «Blutbuch» den Deutschen Buchpreis gewann, ist auch eine zeitgeistige und willkommene Einladung, sich mit der Ambivalenz einer genderfluiden Existenz zu beschäftigen. 

Steht da am Montag ein Exhibitionist und Freak, ein scheuer Paradiesvogel und Queeraktivist auf der Bühne? Dass der Deutsche Buchpreis in die Schweiz geht, ist schon Sensation genug. Zuletzt war es Melinda Nadj Abonji, die 2010 diesen Preis in die Schweiz mitnahm – und kurz darauf auch gleich den Schweizer Buchpreis gewann. Nun hat die Schweiz einen Literaturstar mit gewaltigem Showtalent.

Hansruedi Kugler

Die Kombination von greller Schminke und Oberlippenbärtchen, von Dreitagebart, durchsichtigem Top und buntem Wiesenrock war atemberaubend. Dass de l’Horizon einen mit Tränen gestotterten Dank an die Mutter in den Saal schickte, ein Mundartlied sang und danach als Solidaritätsgeste an die protestierenden iranischen Frauen den Kopf kahlrasierte, geht in die Literaturgeschichte ein – und stellt damit klar: Hier macht sich ein «Jemensch» zum Gesamtkunstwerk mit Sprachbotschaft. Denn ob Mann oder Frau, «jemand» wird bei ihm zu «jemensch». De l’Horizon bezeichnet sich als nonbinäre Person.

Dass die Feuilletons begeistert sind, überdeckt nicht die Wortschlachten auf den Sozialen Medien zu Gender und Queeraktivismus. Der dort seit langem grassierende Spott und die wüsten Beschimpfungen sind nur die hässliche Spitze eines weit verbreiteten Kopfschüttelns über vermeintliche Sprachverhunzung und Queer-Propaganda. Kim de l’Horizon hält dem mit seinem Roman etwas entgegen. Denn Literatur schafft ja gerade einen Raum, Reizthemen nicht mit simplen Botschaften oder biografischer Eindeutigkeit zu schubladisieren.

Gute, dringliche Literatur schafft es, solche Themen lebensgesättigt und mit irritierenden, ambivalenten Figuren und mehrschichtigem Erzählen offen zu halten. «Blutbuch» jedenfalls ist ein grosser literarischer Wurf, gut lesbar und ein virtuoser und schmerzhafter Roman. Mein Kollege Julian Schütt schrieb in seiner in dieser Zeitung erschienenen Besprechung: «Ein bemerkenswert dichter und tiefgründiger Erstling!» Den Deutschen Buchpreis auf die politische Botschaft einer hippen, zeitgeistigen Queer-Solidarität zu reduzieren, läge nahe – ist aber nur ein Nebeneffekt.

So revolutionär und provokativ der Roman auch aufgenommen wird, vom Thema her und vor allem durch die Kunstfigur Kim de l’Horizon ist es natürlich gar nicht. Genau 40 Jahre ist es beispielsweise her, dass ein junger britischer Sänger als «Boy George» Furore machte mit seinem genderfluiden Auftreten und seiner samtig-hohen Stimme, mit der er Hits wie «Do you really want to hurt me» sang. Das Androgyne, das Zerfliessen der Geschlechtergrenzen war in den 1980er Jahren hoch angesagt und fixer Teil der Populärkultur, jedoch weit weniger politisiert als heute.

Gerade dies macht den jungen Schweizer Autor Kim de l’Horizon zum Ereignis. Denn wie der fast gleichaltrige französische Literaturstar Edouard Louis versteht er den eigenen Körper als politisch im umfassenden Sinn: Als ein Gefäss, das von Geschichte, Herkunft, Familie, Sex, Biologie und Vision geformt ist. Deshalb gehören für ihn alle diese Elemente in einer radikalen, schamlosen Art reflektiert: Mal devot bis masochistisch, dann poetisch und sentimental, diskursiv und literaturtheoretisch fundiert.

Aber alles ist fassbar: Seine Romanfigur verbindet sich etwa mit seiner Grossmutter, die eine lesbische Affäre hatte und gegen Testosteron im Übermass Medikamente einnahm. Dass von hier aus ein politisch zu verstehendes, symbolisches Engagement etwa für iranische Frauen an der Buchpreis-Verleihung entsteht, ist naheliegend. Das wäre dann wohl die Verwirklichung von politischer Literatur.

Der Versuch, Kim de l’Horizon von seiner Romanfigur zu unterscheiden, muss scheitern. Schliesslich heissen beide Kim und in biografischen Angaben des Autors steht «geboren 2666 auf Gethen.» Das literarische und öffentliche Spiel mit Identität und Geschlechterrolle gehört hier zum Programm. Irritation muss aufrecht erhalten werden – gegen den Hang zur Eindeutigkeit in der Selbstdefinition wie in der Interpretation durch uns Literaturfans. Man kann dem Deutschen Buchpreis und mit ihm Kim de l’Horizon gratulieren. Die Schweiz hat einen neuen «Jemensch»-Literaturstar.