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Weg von russischem Gas? Die Schweiz will neue Gasreserven sichern – mit Hilfe von Deutschland

Wie der Bundesrat die Energieversorgung für den Winter sicherstellt und wie ihm der deutsche Vizekanzler Robert Habeck dabei hilft.

Die Schweiz ist beim Erdgas komplett abhängig vom Ausland. Denn sie verfügt weder über eigene Vorkommen noch über grosse Speicherkapazitäten, um die Versorgung mittelfristig sicherzustellen. Gleichzeitig deckt Erdgas immerhin 15 Prozent des hiesigen Energiemix ab: Rund 300’000 Haushalte brauchen das Gas, um zu heizen und zu kochen, auch Gewerbe und Industrie sind auf die Gaslieferungen angewiesen.

Was passiert also, wenn das Gas angesichts des anhaltenden Krieges plötzlich europaweit knapp wird? Der Bundesrat hat bereits im März ein solches «Restrisiko» festgestellt: Die Schweizer Energieversorgung sei für den Winter 2022/2023 nicht gesichert.

Die Regierung nannte namentlich drei Risiken: Falls ein Kraftwerk länger ausfällt, falls eine ausgeprägte Kälteperiode eintrifft oder falls die Russen den Gashahn zudrehen. Doch das ist nur die Innenperspektive. Auch andere Länder suchen nach Alternativen zum russischen Gas. Auch sie wollen die Versorgung für den kommenden Winter sichern. Und die EU-Staaten haben sich im Unterschied zur Schweiz über Solidaritätsabkommen gegenseitig abgesichert.

Bundesrat verpflichtet Branche zum Gaskauf und -speicher

Vor diesem Hintergrund verlangte der Bundesrat kurz nach dem Einmarsch der Russen in der Ukraine von der Gasbranche, sich ausreichende Reserven zu sichern. Konkret sollen die Firmen gemeinsam Gas- und Speicherkapazitäten beschaffen. Um diese Aufgabe zu erleichtern, schaltete der Bundesrat kurzfristig das Kartellrecht aus.

Das war im März. Letzte Woche hat der Bundesrat eine dringliche Verordnung erlassen: Sie verpflichtet die Gasnetzbetreiber, sich für den Fall einer «schweren Mangellage» vorzubereiten. Konkret müssen sie ab dem 1. November eine physische Reserve anlegen. Weil die Schweiz keine eigenen Gasspeicher hat, stehen diese im Ausland, in Frankreich, Italien oder Deutschland.

Die Gasnetzbetreiber müssen dort Erdgas im Umfang von mindestens 15 Prozent des durchschnittlichen Jahresverbrauchs speichern. Das entspricht etwa 6 Terawattstunden (TWh). Rund die Hälfte davon ist heute durch die Westschweizer Betreiberfirma Gaznat SA in der Nähe von Lyon in Frankreich gebucht.

Die Gasnetzbetreiber müssen gleichzeitig zur physischen Reserve auch über Optionen für zusätzliche Gaslieferungen verfügen, um kurzfristig Erdgas im Umfang von 20 Prozent des Jahresverbrauchs zu kaufen. Dieses darf nicht aus Russland stammen.

Der Trumpf der Schweiz

Doch gesichert sind die physischen Gasspeicher im Ausland nicht, wenn eine akute Mangellage herrscht, wenn also ausländische Betreiber der Gasspeicher die Schweizer Kapazitäten nicht freigeben wollen. Dann könnte die Schweizer Abhängigkeit zum Problem werden.

Insofern ist es eine Erleichterung, dass sich der deutsche Vizekanzler Robert Habeck und die Schweizer Energieministerin Simonetta Sommaruga am Sonntagabend im Rahmen des WEF auf ein Solidaritätsabkommen geeinigt haben.

Es ist zwar noch nicht ausgearbeitet und auch nicht unterzeichnet. Es soll aber sicherstellen, dass sich die Staaten im Notfall gegenseitig aushelfen. Es brauche nun eine pragmatische Herangehensweise, sagte Habeck. «Denn eine Energiewelt, die vernetzt ist, ist eine sichere, stabilere Welt.»

Die Schweiz ist darum bestrebt, auch mit den anderen Nachbarstaaten ein Solidaritätsabkommen zu unterzeichnen. Das Interesse ist nicht ganz so einseitig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Schweiz verbraucht im europäischen Vergleich wenig Gas: etwa so viel wie die Stadt Hamburg. Zudem ist sie ein wichtiges Transit-Land. Die Gasleitung, die durch die Schweiz führt, verbindet den Norden und Süden Europas.

Das sei strategisch ein «nicht zu unterschätzender Vorteil» für die Schweiz, sagt Martin Schmid, Präsident des Verbands der Schweizerischen Gasindustrie und FDP-Ständerat. «Wir garantieren den Nachbarn die Durchleitung von Gas, da die Transportkapazität nur zu einem kleinen Teil den Schweizer Markt bedient.» Fast 90 Prozent des Gases in der Schweizer Transitgasleitung sei auf der Durchreise und werde im Ausland gebraucht. Insofern müssten auch die Nachbarländer ein Interesse an einem Solidaritätsabkommen mit der Schweiz haben.

Für neue Technologie braucht es neue Infrastruktur

Robert Habeck baut derweil in Deutschland in «Windeseile» eine neue Infrastruktur für Flüssiggas auf, um sich von der russischen Gas-Lieferung zu lösen und die Gas-Pipeline Nordstream 1 lahmzulegen. Er bot vor diesem Hintergrund den Schweizer Unternehmen an, ebenfalls Anteile der Flüssiggaslieferungen zu reservieren, die neu über Schiffe aus Katar, Kanada, Norwegen oder Algerien geliefert werden können. Steht die Infrastruktur, spielt der Markt, wie Habeck sagt. «Sind die Bedingungen und Angebote der Gas-Exporteure attraktiv für die Unternehmen, dann werden sie das Gas kaufen.»