
Menschenmassen am ESC in Basel: Die Forschung zeigt, wie sich Panik vermeiden lässt
Wie entsteht eine Massenpanik? Das haben Forschende der École normale supérieure de Lyon untersucht, deren Studie im Fachmagazin «Nature» erschienen ist. Eine Computeranalyse von Videoaufnahmen des traditionellen spanischen Festivals San Fermin in Pamplona zeigt Erstaunliches: Menschenmassen bewegen sich kreisförmig. Die Wirbel sind klar ersichtlich, wenn die Videos mit höherer Geschwindigkeit abgespielt werden.
Die Aufnahmen wurden gemacht, als sich Tausende Menschen auf dem zentralen Platz in Pamplona versammelten. Die Kameras waren auf Balkonen rundum installiert.
Die Forschenden sahen, wie im Laufe des Morgens immer mehr Menschen auf den Platz strömten, bis zu einer Dichte von etwa vier Personen pro Quadratmeter. Ab da begann die Menge, langsam und kaum wahrnehmbar rotierende Wirbel zu bilden. Diese wurden schneller, bis sich rund neun Personen auf jedem einzelnen Quadratmeter aufhielten. Die Bewegung war so langsam, dass sie die Festivalbesucher wohl nicht wahrgenommen haben, wie die Studienautoren schreiben.
Eine Katastrophe mit nachhaltiger Wirkung
Die Forschenden aus Spanien fanden ähnliche Muster, als sie die Videos des Loveparade-Unglücks 2010 in Duisburg analysierten, bei dem 21 Menschen gestorben waren.
Doch wie kann es letztlich zur Massenpanik kommen, wenn die Leute so nahe beieinander stehen? Das Unglück, das die Eventplanung in Deutschland nachhaltig änderte, hat auch Dirk Helbing, Professor an der ETH für computergestützte Soziologie, untersucht. Er gilt als Crowd-Disaster-Experte und hat sich intensiv mit der Verhinderung von «Massenpaniken» beschäftigt, wobei Helbing von «Massenturbulenzen» spricht, in Anlehnung an ähnliche Phänomene, die aus der Theorie von Flüssigkeiten und granularen Medien – wie dem Ausfluss von Kaffeebohnen oder Reis aus einem Silo – bekannt sind.
Massenturbulenzen entstehen gemäss Helbing bei sehr grosser Dichte, wenn zwischen den Körpern Kräfte übertragen werden und die Menschen auf oft unvorhersagbare Weise hin- und hergeschubst werden. In der Folge können sie zu Boden stürzen und werden dann zur Stolperfalle für weitere Menschen. Solche Situationen sind oft lebensgefährlich.
Helbing hat computergestützte Modelle entwickelt, um das Verhalten von Menschenmengen in Panik- und Normalsituationen zu simulieren. Sie sollen dabei helfen, die Ursachen vergangener Massenunglücke zu rekonstruieren und zukünftige Veranstaltungen sicherer zu machen.
Woran problematische Situationen zu erkennen sind und welche Massnahmen dann noch helfen, zeigt Helbing in einer Studie zur Loveparade in Duisburg: Insbesondere braucht es Pläne für Gefahren- und Ausnahmesituationen. Zu den wichtigsten Massnahmen gehört es, dafür zu sorgen, dass sich nicht zu viele Menschen auf zu engem Raum aufhalten und genügend Fluchtwege existieren. Diese müssen gut sichtbar sein, damit sich die Menschenströme nicht stauen. Solche Staus waren in Duisburg verhängnisvoll.
ESC: Kantonspolizei Basel plant mit vielen Fluchtwegen

Georgios Kefalas / KEYSTONE
Es brauche Zeit, bis sich neue Erkenntnisse aus der Forschung in der Praxis etablieren, sagt Helbing. Aber auch dann sei zu beachten, dass Computersimulationen nicht mit der Realität verwechselt werden sollten. «Sie ersetzen nicht die sorgfältige Ausarbeitung von Sicherheitsmassnahmen, das Üben von Einsätzen oder die Erfahrung aus früheren Events, sondern ergänzen die Methoden, die bisher schon verwendet wurden.»
Ob und inwiefern sich die Kantonspolizei Basel-Stadt während des Eurovision Song Contest (ESC), der dieser Tage stattfindet, auf Helbing oder andere Spezialisten stützt, ist unklar. Auf Nachfrage sagt Rooven Brucker vom Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt, dass Absperrungen, Verkaufsstände und Attraktionen so platziert würden, dass im Ernstfall eine schnelle und möglichst flexible Flucht in verschiedene Richtungen gewährleistet sei. Besonders frequentierte Örtlichkeiten werden videoüberwacht, um Menschenströme frühzeitig zu erkennen.
Polizeipatrouillen würden so positioniert, dass sie bei Bedarf schnell eingreifen und den Besucherstrom gezielt lenken können. Die Verkehrslenkung stehe in ständigem Austausch mit der Einsatzleitung, um bei Bedarf Strassen und Plätze rasch freizumachen und zusätzliche Fluchträume zu schaffen.
Es gibt am ESC keine Besucherzähler, aber die Sicherheitskräfte überwachen die Menschenmenge. Erreicht das Aufkommen an einem bestimmten Ort eine kritische Grenze, könnten Besucherströme unauffällig umgeleitet werden, damit sich die Personenzahl nicht weiter erhöht, oder Einsatzkräfte bitten Besucher aktiv, bestimmte Bereiche zu verlassen.