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«Die City wurde mit den Amerikanern offensichtlich viel kompetitiver»

Lord Christopher Tugendhat, der britische Oberhausabgeordnete, frühere Journalist und EU-Kommissar, hat aus nächster Nähe miterlebt, wie politische und wirtschaftliche Entwicklungen das Londoner Finanzzentrum verändert haben. Seine Erfahrungen sind auch für die Schweiz von heute bedeutungsvoll.

London ist nach dem Krieg von einem Finanzzentrum mit Club-Charakter zum weltweit führenden Finanzplatz geworden. Wie kam es dazu?

London war schon lange ein wichtiger Finanzplatz. Er war das Zentrum des Währungsraumes des britischen Pfundes und das Pfund war damals eine viel wichtigere internationale Reservewährung, als sie das heutzutage ist. Aber die Entwicklung des Eurodollarmarktes, die oft Sigmund Warburg und seiner SG Warburg Bank zugeschrieben wird, war nach dem Krieg sehr wichtig für London. Der Eurodollarmarkt führte über die Zeit zur Internationalisierung der Institute, die in der City of London tätig waren.

Was meinen Sie mit Internationalisierung?

Die City war schon vor der Schaffung des Eurodollarmarktes ein internationales Finanzzentrum, aber die in London tätigen Institute waren überwiegend britisch. Wobei, wenn ich sage, sie waren überwiegend britisch, dann muss ich hinzufügen, dass Rothschild nicht britischen Ursprungs war, Hambros und Warburg ebenfalls nicht. London war immer offen für Talente aus dem Ausland. Aber mit dem Eurodollar-Markt begann eine neue Epoche für die City, und der Markt brachte im Besonderen die Amerikaner herein. Später, im Jahr 1986, kam dann der Big Bang hinzu, der die Eigentümerstrukturen in der City völlig veränderte.

Wie haben die Amerikaner die Londoner City verändert?

Ich kann das nur aus der Warte eines damaligen Beobachters beurteilen. Aber die City wurde mit den Amerikanern offensichtlich viel kompetitiver. Persönliche Beziehungen spielten eine weniger wichtige Rolle als davor. Aber die britischen Behörden, allen voran die Bank of England, begrüssten die Internationalisierung der City. Sie sahen darin einen Gewinn für Grossbritannien.

Inwiefern ein Gewinn?

Es gibt die Analogie zu Wimbledon. Wimbledon wurde zu einem herausragenden internationalen Tennisturnier, weil die besten Spieler aus aller Welt in Wimbledon spielen. Nicht, weil die Briten die besten Spieler sind. Tatsächlich spielten für eine lange Zeit nicht sehr viele Briten am Wimbledon-Turnier. Deshalb wird die Entwicklung von London bisweilen auch mit dem Wort Wimbledonisierung beschrieben. So wurde auch die City of London zu einem herausragenden Finanzzentrum, weil die besten Spieler aus Europa, Amerika und anderen Regionen hier spielten.

Man sollte vermuten, dass sich der Charakter der City mit der Internationalisierung ebenso verändert hat, wie das beim Wimbledon-Turnier der Fall war. War das so?

Ja, ich denke schon. In der früheren Zeit waren die einzelnen Akteure alle untereinander bekannt. Das ist viel weniger der Fall, wenn Leute von aussen hereinkommen. Das Geschäft wurde also kompetitiver, aber die Pioniere waren nicht die Amerikaner, sondern Banken wie SG Warburg. Ein Schlüsselmoment war 1958, als SG Warburg einem unfreundlichen Übernahmeangebot an die Aktionäre von British Aluminium zum Durchbruch verhalf und sich damit offen gegen wichtige Vertreter des alteingesessenen Establishments stellte. Sigmund Warburg kam von Deutschland und andere Leute an der Spitze der Bank waren vor dem Krieg ebenfalls von Deutschland nach London gekommen. SG Warburg war der Katalysator für den Wandel.

Wie viel Geld verdienten die Investment-Banker damals in der City?

Als ich 1960 bei der «Financial Times» als Journalist zu arbeiten anfing, hatte ich einen Anfangslohn, der höher war, wie wenn ich zu einer Investment-Bank gegangen wäre. Ich hatte 850 Pfund pro Jahr. Wir reden also über ziemlich bescheidene Beträge. Aber sicher verdienten die Leute, welche die Investment-Banken führten, schon damals viel Geld. Das hatte auch mit den Steuern zu tun. Wir hatten Einkommenssteuern von bis zu 80 Prozent, aber nur sehr niedrige Steuern auf Kapitalgewinnen.

Wie war die generelle Stimmung in Grossbritannien und die Lebenssituation der Leute?

Arbeitskonflikte waren ein zentrales Thema im Land. Sie eskalierten 1974 mit den grossen Streiks in den Kohlebergwerken von Wales. Gleichzeitig gab es eine Energieknappheit wegen der Erdölkrise und die Inflation lag bei 15 Prozent. Premierminister Edward Heath musste 1974 wieder seinem Konkurrenten von Labour, Harold Wilson, Platz machen, den er vier Jahre davor abgelöst hatte. Es gab auch die intensiven Debatten, ob Grossbritannien der EU beitreten sollte.

Wie sah man in der City die Aussicht auf einen EU-Beitritt, der 1975 dann auch Tatsache wurde?

Die City und die Wirtschaft generell befürworteten die EU-Mitgliedschaft. Man war angezogen von der Idee eines grossen gemeinsamen Binnenmarktes und die EU wurde damals als ein erfolgreiches Projekt gesehen. Ich habe ein Buch geschrieben, in dem ich die veränderte Sicht auf die EU vor allem in den traditionell wirtschaftsfreundlichen Kreisen der britischen Konservativen thematisiere, die 2016 den Brexit möglich machten. («The worm in the apple», Haus Publishers, 2022).

Aber gab es nicht schon in den 1970er-Jahren Opposition gegen den EU-Beitritt – auch in der City?

Ja, aber trotzdem reicht es doch zu sehen, wer die Kampagne für den EU-Beitritt 1975 finanzierte. Es war die Geschäftswelt. Sie sah klarer als die Politik, dass der Commonwealth keine gute Basis für den künftigen Wohlstand Grossbritanniens darstellte und dass es viel besser war, dem europäischen Binnenmarkt beizutreten.

Welchen Einfluss hatten die City und die Geschäftswelt auf den Brexit?

1975 war das starke Engagement der Geschäftswelt hilfreich für den Entscheid zum EU-Beitritt. 2016 war es genau umgekehrt. Das Engagement der Geschäftswelt für den Verbleib in der EU hatte einen negativen Effekt auf die Abstimmung. Dahinter steht ein Phänomen, das man in Italien, Frankreich oder auch in Amerika mit der Wahl von Donald Trump beobachten kann. Es ist eine Revolte gegen die Mächtigen. Die City ist ein Symbol für Globalisierung und Internationalisierung und deshalb in der Bevölkerung teilweise unbeliebt. Aber ich glaube nicht, dass sich der Brexit allein gegen die City richtete. Ich denke, es war die Revolte von Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern, die bei der Aufteilung von Einkommen und Einfluss auf der falschen Seite stehen.

Wer sind die Leute, die in der Welt der heutigen Geschäftswelt auf der richtigen Seite stehen, wie Sie es sagen?

Als ich Präsident von Abbey National war, stand mit Dennis Weatherstone ein Landsmann an der Spitze von JP Morgan. Er hatte seine Laufbahn in der Bankenwelt mit 16 Jahren als Messenger-Boy, einer Art Laufbursche, begonnen. Er war natürlich eine Ausnahme. Aber es wäre heute sehr schwer für irgendjemanden, vom Messenger-Boy zum Chairman einer grossen internationalen Bank aufzusteigen. Die fehlende Bildung würde sich bemerkbar machen, und das ist das Problem.

Wo liegt das Problem mit der Bildung?

Bildung hat einem Teil der Gesellschaft viele Möglichkeiten eröffnet, für andere Teile ist Bildung heute aber eine Schranke. Das ist ein Problem, das alle westlichen Länder haben. Deutschland und die Schweiz sind besser damit umgegangen, denn diese Länder haben ein hoch entwickeltes System für Berufslehren. Ein Problem in Grossbritannien und nicht nur hier ist der Umstand, dass wir zu viele Universitätsabgängerinnen und Universitätsabgänger mit Diplomen hervorbringen, für die es keinen Markt gibt. Stattdessen haben wir nicht genügend Spengler, Elektriker und viele andere Berufsleute. Darin sind die Deutschen viel besser als wir. Aber grundsätzlich ist diese Fragmentierung der Gesellschaft in akademisch gebildete und nicht akademisch gebildete Segmente ein Problem der ganzen westlichen Welt. Als ich in den 1950er-Jahren in London auf die Universität ging, war ich Teil einer Bevölkerungsgruppe, die kleiner war als 10 Prozent. Diese Gruppe ist im Lauf der Zeit zwar grösser geworden. Vor allem, weil zunehmend auch Frauen die Universitäten besuchten.

Sie wurden 1977 EU-Kommissar für Finanzplanung und Haushalt. Wie wurde Grossbritannien damals in Brüssel wahrgenommen?

Das war eine sehr schlechte Zeit für Grossbritannien. Raymond Barre, der damals unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing Premierminister von Frankreich war, prägte den Ausspruch von der englischen Krankheit. England entwickelte sich vom florierendsten Land Westeuropas im Jahr 1960 zum drittärmsten Staat in der EU im Jahr 1977. Grossbritannien wurde als ein wirtschaftlich hoffnungsloser Fall gesehen.

1979 wurde Margaret Thatcher zur Premierministerin gewählt. Was hat sie verändert?

Ihre Wahl war ein sehr wichtiger Wendepunkt. Margaret Thatcher war geleitet von der Idee, die britische Wirtschaft konkurrenzfähiger zu machen. Sie wollte restriktive Praktiken durchbrechen, unabhängig davon, ob es den Arbeitsmarkt und die Gewerkschaften oder die Finanzbranche mit ihren Club-ähnlichen Strukturen in der Londoner City betraf. Sie stiess die Privatisierungen der britischen Industrie an, die dem Staat riesige Einnahmen und der Finanzindustrie wichtige Erfahrungen bescherten. Und natürlich gingen auch die Steuern stark zurück. Grossbritannien wurde so viel wettbewerbsfähiger. Allerdings passierten diese Veränderungen nicht über Nacht. Weil die Regierung Thatcher anfänglich ziemlich harte Massnahmen ergriff, hing ihr politisches Überleben längere Zeit in der Schwebe. Bis zum Falkland-Krieg 1982 war Thatchers Position nicht absolut sicher.

1986 kam die grosse Deregulierungswelle, der Big Bang. Was hat Thatcher mit dieser Massnahme erreicht?

Sie selbst hat eigentlich gar keine Massnahme ergriffen. Sie hat vielmehr dafür gesorgt, dass der Big Bang passieren konnte. Die führenden Leute in der Londoner City wollten, dass der Big Bang passiert, alte Regulierungen, Preisabsprachen und andere restriktive Praktiken abgeschafft werden. David Scholey, der seinerzeitige CEO von SG Warburg, und Nicholas Goodison, Chairman des London Stock Exchange von 1976 bis 1986, waren die führenden Köpfe in der City, die den Big Bang wollten. Manchen Bereichen der britischen Volkswirtschaft musste die Regierung Thatcher ein wettbewerbsfreundliches Umfeld auferlegen und restriktive Bedingungen aktiv beseitigen. Der City of London öffnete sie hingegen nur den Weg, damit diese ihre Öffnung und Modernisierung selber an die Hand nehmen konnte.

Gab es Ängste vor einer Überfremdung der City durch ausländische Finanzinstitute?

Die Bank of England war eine Befürworterin des Big Bang. Dabei hatte sie viel mehr die geschäftliche Entwicklung der City als die Eigentümerschaft der Institute im Sinn. London sollte zum zentralen Platz der Finanzmärkte werden, zu einem Platz, auf dem Kapital beschafft wird und Geschäfte abgeschlossen werden. Das war der Bank of England viel wichtiger als die Frage, wem die Institute in London gehörten. Hätte die Bank of England vorausgesehen, bis zu welchem Grad die Londoner Institute in ausländische Hände übergingen, hätte sie sich vielleicht eine weniger ausgeprägte Entwicklung gewünscht.

War die Übernahme von SG Warburg durch die UBS ein Versehen der Bank of England und ein Kollateralschaden des Big Bang?

Ich bin sicher, dass die Bank of England die Öffnung der City nie bereut hat. Aber vielleicht wäre sie glücklicher geworden, wenn mehr einheimische Institute in britischen Händen geblieben wären. Aber das hätte nichts am Entscheid zur Öffnung geändert.

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