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Wie werden mit dem Freizügigkeitsabkommen die Löhne geschützt?

Das Freizügigkeitsabkommen gewährt Unternehmern und Firmen das Recht, grenzüberschreitende Dienstleistungen zu erbringen. Nun übernimmt die Schweiz neue EU-Richtlinien zum Entsenderecht. Sonderregeln sollen den Lohnschutz sicherstellen.

Unternehmer und Firmen in der EU und der Schweiz können während 90 Tagen pro Jahr Dienstleistungen in der anderen Vertragspartei erbringen. Firmen dürfen Arbeitnehmer entsenden. Dabei müssen sie die am Arbeitsort geltenden Löhne und Arbeitsbedingungen beachten. Auf diese Weise wird ein fairer Wettbewerb garantiert und Lohndumping verhindert.


Die Schweiz hat die flankierenden Massnahmen erlassen, um die Einhaltung dieser Vorgabe sicherzustellen. Ausländische Firmen müssen ihren Einsatz acht Tage im Voraus den Behörden melden. Unternehmer, die selbstständig tätig sind und folglich nicht unter das Entsenderecht fallen, müssen dies auf Verlangen nachweisen. So soll Scheinselbstständigkeit verhindert werden. Bei Verstössen drohen Strafen.

Unternehmer und Firmen aus der EU nutzen die Dienstleistungsfreiheit rege. 2024 wurden in der Schweiz 85’000 entsandte Arbeitnehmer gemeldet, die vorwiegend im verarbeitenden Gewerbe und im Baunebengewerbe tätig waren. Bei risikobasierten Kontrollen wurden in rund einem Viertel der Fälle Lohnunterbietungen festgestellt. Bei Personen, die mutmasslich selbstständig erwerbstätig waren, wurde in 7 Prozent der Kontrollen eine Scheinselbstständigkeit vermutet.

Nun soll das Freizügigkeitsabkommen weiterentwickelt werden. Dies betrifft auch den Lohnschutz.


Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort

Die Schweiz und die EU bekennen sich neu ausdrücklich zum Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Die Schweiz akzeptiert die Übernahme von neuen Richtlinien der EU zum Entsenderecht in das Freizügigkeitsabkommen. Die EU sichert der Schweiz zu, das in der Schweiz gängige Kontrollsystem, bei dem die Sozialpartnerinnen und die Kantone beteiligt sind, weiterhin anzuwenden.

Die EU hatte in der Vergangenheit diverse flankierende Massnahmen der Schweiz als unverhältnismässig und diskriminierend kritisiert. Nun haben sich die Schweiz und die EU auf einen Kompromiss geeinigt: In Risikobranchen ist eine Voranmeldefrist von vier Arbeitstagen zulässig. Die Schweiz kann von Firmen, welche bei einem früheren Einsatz ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind, eine Kaution verlangen. Zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit ist es erlaubt, die Vorlage von Dokumenten zu verlangen.

Ergänzend dazu schlägt der Bundesrat autonome Massnahmen vor, um das Lohnschutzniveau in der Schweiz abzusichern. Die Sozialpartnerinnen und die Kantone haben sich vorgängig auf diese Massnahmen verständigt. Dazu gehören die Digitalisierung des Meldeverfahrens und die Vereinfachung des Erlasses von allgemein verbindlichen Gesamtarbeitsverträgen. Gegen ausländische Firmen, welche bereits einmal gegen den Lohnschutz verstossen haben, soll weiterhin eine Dienstleistungssperre verhängt werden können. 2023 wurden mehr als 600 solche Sperren verhängt. Nun wird die Bundesversammlung über diese Vorschläge beraten.

Spesen

Bei der Spesenregelung konnte sich die Schweiz in den Verhandlungen nicht durchsetzen. Heute müssen ausländische Firmen den entsandten Arbeitnehmern in der Schweiz ortsübliche Spesen bezahlen. Die EU war nicht bereit, diese Praxis vertraglich abzusichern. Es ist unklar, ob sie mit dem neuen EU-Recht vereinbar ist. Diverse EU-Mitgliedstaaten – wie Deutschland und Frankreich – verlangen von ausländischen Firmen ebenfalls, ortsübliche Spesen zu entrichten.

Der Bundesrat schlägt der Bundesversammlung vor, die geltende Spesenpraxis weiterzuführen. Dieses Vorgehen verdient Unterstützung. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die EU die Schweizer Regelung angreifen wird. Bei einem Streitfall zwischen einer ausländischen Firma und einem entsandten Arbeitnehmer wird es am Bundesgericht liegen, den Willen der Bundesversammlung höher zu gewichten als eine allfällig gegenteilige Auslegung des Freizügigkeitsabkommens.

Dynamisierung

Das Freizügigkeitsabkommen beruht auf dem EU-Recht. Konsequenterweise sind die neuen institutionellen Regeln, welche in alle Binnenmarktabkommen eingefügt werden, auch auf dieses Abkommen anwendbar. Die Schweiz und die EU verpflichten sich, neue Rechtsakte der EU im Bereich des Entsenderechts dynamisch zu übernehmen, vorbehältlich der vereinbarten Ausnahmen. Die Schweiz kann sich bei der Vorbereitung von Rechtsakten in der EU einbringen. Jede Partei kann die Einsetzung eines Schiedsgerichts verlangen, sofern sich die Parteien bei einem Streit nicht gütlich einigen.

Zusätzlich zu den oben erwähnten Sonderregeln haben sich die EU und die Schweiz auf eine Nicht-Rückschritt-Klausel geeinigt. Demnach muss die Schweiz neue Rechtsakte der EU nicht übernehmen, sofern das Schutzniveau in der Schweiz dadurch bedeutend geschwächt würde. Diese Klausel ist ein Verhandlungserfolg der Schweiz. Kein EU- und EWR/EFTA-Mitgliedstaat kennt eine vergleichbare Sonderbehandlung.

* Matthias Oesch ist Professor für Europarecht an der Universität Zürich.