Ohne Medien keine Demokratie! Die Story klingt dramatisch – aber stimmt sie auch?
Die Medienwelt kenne ich aufgrund meines beruflichen Werdegangs in- und auswendig. Mir ist bewusst, mit wem seriöse Medien wie dieses um die schwindende Aufmerksamkeit eines zunehmend zerstreuten Publikums konkurrieren. Zu den Mitbewerbern zählen längst nicht mehr nur andere Medientitel, der feudale öffentliche Rundfunk, Snapchat oder TikTok – längst gehören auch Kolosse und Einhörner von jenseits des Atlantiks wie Netflix oder Amazon Prime dazu.
Die Aufmerksamkeit des Publikums für die klassischen Medien schwindet – und damit ihre Bedeutung. So erstaunt es kaum, dass die klassischen Medienanbieter damit begonnen haben, verstärkt ihre Relevanz für das Gedeihen demokratischer Gesellschaften zu betonen. Ohne Medien keine Öffentlichkeit, ohne Öffentlichkeit kein demokratischer Diskurs, ohne Diskurs kein Vertrauen in die demokratischen Institutionen, kurzum, ohne Medien keine Demokratie! Die Story klingt dramatisch – aber stimmt sie auch?
Zweifel sind angebracht. Nehmen wir das jüngste Beispiel, das auch in der Schweiz nach allen Regeln der Kunst durchexerziert wurde: die Präsidentschaftswahlen in den USA. Zuerst dozierten viele unserer Medien, dass kein vernünftiger Mensch dem Gedanken verfallen könne, Donald Trump zu wählen. Dabei ging wohl vergessen, dass Wahlen kein Ethikseminar sind – auch verurteilte Straftäter sind wählbar, jedenfalls in den USA. Als sich abzeichnete, dass Trump die Wahl gewinnen würde, hiess es plötzlich, das Rennen würde knapp, knapper, unentscheidbar.
In der Schlussphase wurde Donald Trump dann aufgrund einzelner Quotes von Schweizer Journalisten genüsslich nieder-, Harris trotz schwacher Auftritte hochgeschrieben. Ein Grossteil der berichtenden Zunft hierzulande tat so, als könne sie die Wahl dort selbst beeinflussen, als bestünde sie mithin aus eingebetteten Demokraten-Aktivisten – und ihre Leserschaft aus Einfaltspinseln, die der Erleuchtung bedürfen. Wer hingegen wissen wollte, wie es wirklich um den amerikanischen Wahlkampf stand, musste darben.
Allein: Welche Mediennutzer ausserhalb der journalistischen Blase interessieren sich für das, was Journalisten durch den Kopf geht, wenn sie im Büro vor einem Bildschirm sitzen und sich am amerikanischen Wahlkampf abarbeiten – und nicht für den Wahlkampf selbst? Was viele Medien betreiben, ist nicht Information, sondern – sorry to say – etwas zwischen Uninformation und Desinformation.
Der neue Aktivistenjournalismus sägt so still wie beharrlich am Ast, auf dem er sitzt. Er insinuiert, moralisiert, polarisiert. Er personalisiert, emotionalisiert, skandalisiert. Er tut mithin genau das, was er den sozialen Medien vorwirft. Dabei setzen seine Vertreter ihre Befindlichkeiten über die Interessen der Leser, Zuhörer und Zuschauer, die in erster Linie wissen wollen, was Sache ist – und erst in zweiter oder dritter, was man zum dem, was der Fall ist, denken oder empfinden kann (aber auch nicht muss).
Neue Zahlen belegen dies. Im Jahrbuch Qualität der Medien des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft steht es Schwarz auf Weiss: Die Zahl jener, die auf Nachrichtenkonsum verzichten, ist in der Schweiz von 20 Prozent im Jahre 2009 auf 46 Prozent im Jahre 2024 gestiegen. Dazu passt, dass 60 Prozent finden, man könne den Medien nicht oder eher nicht vertrauen.
Die Wissenschafter der Universität Zürich, die das Jahrbuch verfassen, nennen die Nachrichten-Abstinenten zwar «News-Deprivierte», als würde ihnen etwas fehlen, was sie gerne hätten oder dringend bräuchten. In Wirklichkeit wenden sich jedoch viele von den Medien ab, weil sie weder belehrt noch erzogen werden möchten. Stattdessen wollen sie wissen, was ist oder geschieht – im leserverachtenden Aktivistenjournalismus keine leichte Aufgabe.
Demokratisch verfasste Gesellschaften haben ein echtes Informationsbedürfnis. Nehmen die Medien es ernst, besteht ihre Arbeit darin, einen simplen Satz des alten Goethe jeden Tag aufs Neue zu widerlegen. Er findet sich im Nachlass – man lese bitte zweimal: «Wenn man einige Monate die Zeitungen nicht gelesen hat und man liest sie alsdann zusammen, so zeigt sich erst, wie viel Zeit man mit diesen Papieren verdirbt.»
Zugegeben, das tägliche Widerlegen dieses Satzes ist keine leichte Aufgabe. Aber tatsächlich eine wichtige.
*René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.