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Statt der Armee sollten wir eine zusätzliche Milliarde Franken der Kultur geben

Wollen wir unsere Identität wirklich nur mit Panzern verteidigen? Wollen wir sie mit Bomben schützen oder mit Worten, Bildern, Klängen, Ideen und Emotionen, die sie zum Ausdruck bringen?

In Zeiten, in denen viel über Frieden und Sicherheit gesprochen wird, frage ich mich: Was bedeutet es eigentlich, ein Land, eine Gemeinschaft, eine Identität zu verteidigen? Oft erscheinen oberflächliche Kriegsrhetorik und Friedensbekundungen wie zwei Seiten derselben Medaille. Beide vermeiden eine differenzierte Auseinandersetzung. Einerseits zwingt uns der Krieg sein «Ich habe Recht» auf. Anderseits ruft eine bestimmte banalisierte Vorstellung von Frieden nach Gleichheit und Uniformität: «Wir werden alle gleich.»

Die Kultur stellt die Differenz in den Mittelpunkt. Und deshalb ist sie vielleicht das, was der Idee der Nicht-Kriegsführung am nächsten kommt. Schreiben, filmen, komponieren, inszenieren, auf einer Bühne stehen bedeutet, mit dem in Beziehung zu treten, was ausserhalb von uns liegt, es zu verarbeiten, umzuwandeln und in Form eines Dialogs zurückzugeben. Die Kultur kann verschiedene Formen annehmen, auch unbequeme, doch sie ist auch eine Auseinandersetzung, die auf Begegnung fokussiert ist. Kultur heisst auch: akzeptieren, dass unsere Ideen nicht allgemeingültig sind, dass andere eine unterschiedliche Sichtweise haben können. Wer die Kunst lebt, auch als Zuschauerin oder Zuschauer, misst sich zwangsläufig mit dem, was ihn übersteigt oder in Frage stellt. «Konfrontation» bringt in der Kultur Ideen hervor, nicht Verletzte.

In diesem Sinne ist das künstlerische Schaffen vielleicht eines der mächtigsten Mittel, um Zerstörung vorzubeugen. Es ist ein Konflikt im gehobenen Sinne des Wortes, ohne Blutvergiessen, in dem eine Freiheit herrscht, in der jeder sich selbst bleibt, anders als die anderen. Doch die Zahlen erzählen eine andere Geschichte: In der Schweiz beträgt das Militärbudget für die nächsten vier Jahre fast 30 Milliarden Franken. Für die gesamte Kultur – Literatur, Theater, Kino, Musik, Tanz usw. – investiert der Bund in derselben Zeit knapp eine Milliarde. Eine Summe, die in den letzten Jahren nur minimal erhöht wurde, obwohl in allen Bereichen die Preise und Lebenshaltungskosten steigen.

Eine zusätzliche Milliarde für «Spezialeffekte»

Anfang April hat die Nationalratskommission vorgeschlagen, die 30 Milliarden für die Armee um eine weitere Milliarde für den Kauf von Munition zu erhöhen. Eine zusätzliche Milliarde für Schiesspulver: Spezialeffekte mit verheerenden Folgen. Die Kultur hingegen muss sich mit Kürzungen und Reduzierungen arrangieren, um auf der Bühne bleiben zu können. Eine zusätzliche Milliarde, um sich auf die Zerstörung vorzubereiten, anstatt sie in das zu investieren, was das soziale Gefüge stärkt und unserer Identität Gestalt und Stimme verleiht.

Eine Milliarde, die buchstäblich in Rauch (und Blut) aufgeht, während die Kultur Löhne, Familien, Strukturen, Dienstleistungen, Städte, Tourismus und Sozialabgaben fördert. Sie inspiriert zu neuen Ideen auch in den Bereichen Technologie und Forschung, bringt geistige Energie hervor, auch in Form von Gegensätzen, sammelt Geschichten aus der Vergangenheit und schafft Vorstellungen für die Zukunft. Durch das Erzählen fühlen wir uns im Alltag frei, lachen, weinen, heilen … Und diese Liste könnte beliebig verlängert werden. Die gesamten Kulturbereiche und die Kulturschaffenden bilden ein Universum, das in grosser sozialer Unsicherheit lebt, von dem aber alle in der einen oder anderen Form profitieren. Kultur ist ein Grundbedürfnis.

Die Zukunft verdoppeln

Mit einer Milliarde könnten wir die Unterstützung für Kultur, Kulturschaffende und kulturelle Einrichtungen verdoppeln. Wir könnten die Entstehung von Werken, Festivals, Konzerte, Ausbildung, die Präsenz in den Schulen, die Verbreitung der Kunst und den Austausch zwischen den Sprachregionen vermehrt fördern und unsere Bekanntheit im Ausland ausbauen. Wir könnten denjenigen, die heute in prekären Verhältnissen arbeiten, Mittel zur Verfügung stellen, soziale Stabilität und Kontinuität bieten und die Abwanderung von Talenten bremsen. Gleichzeitig könnten wir allen einen besseren Zugang zur Kultur ermöglichen, sodass sich alle, auch Zuschauende, an dieser Vitalität erfreuen. Ja, wir könnten verdoppeln, die Zukunft verdoppeln.

Im Laufe meiner Erfahrungen habe ich in Solothurn ein Publikum kennengelernt, das die Kinosäle füllt, um Filme zu sehen, die die Schweiz von innen und ihre Beziehung nach aussen zeigen. Filme und die anschliessenden Diskussionen, die Sprachen, Wahrnehmungen und Generationen miteinander in Dialog bringen. Die Schweizer Filmkunst, heute lebendiger und facettenreicher denn je, ist ein starker Ausdruck unserer gemeinsamen Identität. Auf den Filmsets sehe ich (junge) qualifizierte Filmschaffende, die kontinuierlich arbeiten, ihre Erfahrungen und ihr Wissen einbringen und sich vernetzen möchten. Ich sehe Hotels, die dank der Filmproduktionen auch in der Zwischensaison gut ausgelastet sind, und begeisterte Menschen, die ihre Begabung als Statisten entdecken und sich einer Welt der Kreativität annähern. Das inspiriert.

Und dann sind da noch die anderen Kulturbereiche. Die Literatur: Werke, die unsere Kultur geprägt haben, von Friedrich Dürrenmatt über Max Frisch bis zu Fleur Jaeggy, die in Zürich geboren wurde, in Mailand lebt und 2025 den Schweizer Grand Prix Literatur erhielt und die, besser als viele andere, die Mehrsprachigkeit und die kulturelle Stellung der Schweiz in der Welt ausdrückt. Da ist Noëmi Lerch, die vom Aargau ins Greinatal gezogen ist, um über das Leben in den Alpen zu schreiben. Der Faden reicht aber auch von den Erzählungen aus dem Maggiatal des beginnenden 20. Jahrhunderts von Plinio Martini bis zu Fabio Andina, einem der diesjährigen Schweizer Literaturpreisträger. Beide Autoren erinnern uns daran, wer wir waren und wer wir sind. Und da sind auch diejenigen, die die Werke übersetzen, veröffentlichen und zugänglich machen. Wie könnte das geschehen ohne die Unterstützung des Bundes, der Kantone und der Gemeinden?

Die Musik: Da denke ich an die raffinierte Begegnung zwischen Rock und Jazz von Sophie Hunger, die in ausverkauften Konzerten in Berlin begeistert, und an den Hardrock von Gotthard, die von Lugano über den Gotthard in Kreise gelangten, in denen sie Unterstützung fanden und schliesslich in Japan auftraten. Und da sind die Nischenbands, die gar keine Nischenbands mehr sind: von Peter Kernel im Tessin bis Baby Volcano aus dem Jura, die mit mehr als 50 Konzerten pro Jahr durch Europa touren und zu den originellsten Stimmen der unabhängigen Szene zählen.

Das Theater: von Tessiner Theatergruppen wie Trickster-p, die vom Mendrisiotto aus die Grenzen des klassischen Stücks sprengen, bis hin zu Mummenschanz, die seit Jahrzehnten ohne ein einziges Wort die Welt zum Träumen bringen.

Eine mögliche Weichenstellung

Das alles ist Ausdruck unseres Wesens. Es gibt uns das Gefühl, Teil einer lebendigen Gemeinschaft zu sein. Allerdings nehmen wir das oft als selbstverständlich hin, doch ohne Unterstützung und angesichts steigender Kosten sind wir, das Publikum, die grössten Verlierer. Kultur muss demokratisch bleiben, sie ist ein öffentliches Gut – doch genau das vergessen wir oft. Eine zusätzliche Milliarde für die Kultur würde bedeuten, einen Dialog zu stärken, der aus dem Verständnis heraus entsteht und nicht aus Einschränkungen. Es würde bedeuten, denen Würde zu verleihen, die es sich zum Beruf gemacht haben, uns zu erzählen, wer wir sind und was wir noch werden könnten.

Wollen wir unsere Identität wirklich nur mit Panzern verteidigen? Wollen wir sie mit Bomben schützen oder mit Worten, Bildern, Klängen, Ideen und Emotionen, die sie zum Ausdruck bringen? Ich wende mich an die Politik: Würde das Land, das Sie vertreten, nicht langfristig gestärkt, wenn Sie diese Milliarde statt in ein Munitionslager in einen kreativen Raum investieren würden? Eine zusätzliche Milliarde für die Kultur ist kein Traum, sondern eine Weichenstellung. Und sie ist möglich. Braucht es so viel Mut, um diese Weiche zu stellen?

*Niccolò Castelli ist künstlerischer Leiter der Solothurner Filmtage.