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Micha Burkhalter war 27, als er plötzlich die Verantwortung für seinen autistischen Bruder hatte

Zurückstehen oder Verantwortung übernehmen: Das Verhältnis zu einem behinderten Geschwister ist etwas Besonderes. Micha Burkhalter hat es erlebt und sagt: «Manchmal kam ich mir vor wie ein Bilderrahmen für meinen Bruder.»

Der Anruf kam um 23 Uhr: Seine Mutter habe einen Aortariss und müsse noch in der Nacht operiert werden. Am nächsten Tag lag sie im Koma, und Micha Burkhalter hatte auf einen Schlag die Verantwortung für seine ganze Familie: den schwer erkrankten Vater und seinen zwei Jahre älteren Bruder Yan, einen Autisten. Das war 2022. Burkhalter war 27 Jahre alt.

Der Moment, in dem die Verantwortung zuschlägt, er kommt im Leben aller «Geschwisterkinder», wie die Brüder und Schwestern von Menschen mit einer Behinderung heute genannt werden. Burkhalter hat sie angenommen. «Wir können uns unsere Familienmitglieder nicht aussuchen und die Beziehung zu egal welchem Geschwister kann schwierig werden», sagt er bei einem Treffen in einem Berner Stadtcafé.

Aber einfach war die Sache nicht. Sein Bruder Yan wohnte damals noch zu Hause, anders als Burkhalter, der schon mit 23 Jahren in eine WG gezogen war. Er musste also einen folgenreichen Entscheid fällen: Er suchte einen Heimplatz und begleitete Yan beim Ausziehen. Sie hätten lange darüber diskutiert, sagt er. Yan habe die Situation dann akzeptiert. Im Heim hat er seine eigenen sozialen Kontake, seine Arbeit und macht eigenständig Ausflüge. «Es würde ihm nicht besser gehen, wenn ich ihn rund um die Uhr unterhalten und behüten würde.»

Burkhalter realisierte erst damals, Ende zwanzig, was es wirklich heisst, ein «Geschwisterkind» zu sein. Er habe die Beziehung zu seinem Bruder zuvor nie als besonders wahrgenommen. «Ich habe ein ganz normales Verhältnis zu Yan, ich bin manchmal frech zu ihm und umarme ihn auch mal einfach so.» Früher hätten sie sich auch gezofft, und er habe blöde Dinge zu seinem Bruder gesagt. «Wie man halt so ist unter Geschwistern.»

Der immer gleiche Ausflug ins Verkehrshaus

Yan sei ein «Bilderbuch-Autist», sagt Burkhalter. Er könne sich stundenlang mit einer Sache beschäftigen, die ihn interessiere. Zum Beispiel mit einem Computerspiel. Er könne sich verbal ausdrücken, aber seine Emotionen nicht direkt äussern. Manchmal habe Yan einen Zusammenbruch, meist am Abend und zu Hause, wenn ihn die Eindrücke des Tages überwältigten.

Burkhalter, der ein wildes Kind war, hat früh gelernt, sich seinem Bruder anzupassen, für ihn «wie ein Bilderrahmen» zu sein. Er hat gelernt, strukturiert zu leben, weil Yan fixe Abläufe braucht und alles Unvorhergesehene zu viel für ihn sein kann. «Wir waren zum Beispiel immer um 18 Uhr zu Hause für das Abendessen.»

Das habe er als Kind nicht immer toll gefunden. Aber es sei immer klar gewesen, dass seine Eltern und er sich seinem Bruder anpassten. «Einmal im Jahr fuhren wir ins Verkehrshaus nach Luzern. Immer mit dem exakt gleichen Ablauf. Das war dann irgendwann nicht mehr so spannend.»

Die Polizei nahm ihn mit, weil er fotografierte

Bei Burkhalter hat das Verhältnis zu seinem Bruder Spuren hinterlassen. So sehr, dass es auch seine Berufswahl beeinflusst hat. Nach einer Lehre als Fachangestellter Betreuung beginnt er im Herbst die Ausbildung zum Sozialpädagogen. Im Moment arbeitet er in einem Heim für Menschen im Autismus-Spektrum, und jeweils einen Tag in der Woche arbeitet er als Assistenzperson in einer Familie mit einem autistischen Kind.

Auch in seiner Freizeit beschäftigt ihn das Thema. Schon immer konnte Burkhalter gut zeichnen. Nun arbeitet er an einer Graphic Novel, die seine Kindheit mit Yan erzählt. Er tausche sich dafür oft mit seinem Bruder aus, erzählt er. «Ich will wissen, wie er gemeinsame Momente erinnert und was für ihn nicht fehlen darf in der Geschichte.»

Erlebt haben sie viel miteinander. Auch Diskriminierungen. Einmal habe die Polizei Yan mitgenommen, weil er ihnen verdächtig vorkam. Erst im Auto hätten die Beamten gemerkt, dass Yan eine Behinderung hat. Burkhalter hat den Polizeivorsteher im Nachhinein zur Rede gestellt. «Das sollte nicht passieren», habe dieser gesagt. Da habe er gefragt, ob denn die Polizisten im Umgang mit Behinderten geschult seien. Er könne sonst vorbeikommen und ihnen einen Crashkurs geben. «Das war schon frech», sagt er und lacht.

«Wir haben uns auch gezofft»: Micha Burkhalter (rechts) und sein Bruder Yan.
Bild: zvg

Wie viel Verantwortung ist zu viel?

Sie hätten ein enges Verhältnis, sagt Burkhalter. Trotzdem gibt es manchmal auch Distanz. Es komme vor, dass sie sich vier Wochen nicht sehen. «Dann mache ich mir ein schlechtes Gewissen, aber für Yan ist nichts infrage gestellt. Es ist immer klar, dass wir Brüder sind.»

Die Verantwortung für Yan trägt Burkhalter heute nicht mehr allein. Seine Mutter lebt, nachdem sie aus dem Koma aufgewacht ist und eine Rehabilitation gemacht hat, wieder zu Hause. Yan besucht seine Eltern am Wochenende. Sie übernehmen, was ihre Gesundheit zulässt.

Für Micha Burkhalter ist klar, dass er irgendwann selbst eine Familie möchte. Und auch, dass seine Eltern irgendwann nicht mehr da sein werden. Wie das dann zusammengeht mit der Verantwortung, die er für seinen Bruder trägt? «Das macht mir schon etwas Angst», sagt er. Heute könne er alles stehen und liegen lassen, wenn etwas mit seinem Bruder sei. «Aber was, wenn ich selbst Kinder habe, die mich auch brauchen?»

Rat und Unterstützung für Geschwisterkinder

Wie gehen die eigene Familie und die Betreuung behinderter Geschwister zusammen, und wie weit reicht die Verantwortung? Um solche Fragen kümmert sich der Verein Raum für Geschwister (geschwisterkinder.ch). Der Hauptfokus liegt auf der Unterstützung von Geschwisterkindern, Familien und Fachpersonen. Der Verein organisiert Treffen, Workshops und Whatsapp-Gruppen und bietet sogar eine Ausbildung zur «Fachperson Geschwister» an.

Sie wollten Geschwisterkindern einen geschützten Rahmen bieten, in welchem sie offen reden könnten, auch über ihre kleinen oder grossen Frustrationen, sagt Cornelia Mackuth-Wicki, Vizepräsidentin des Vereins. Einen Ort, an dem Verständnis für eine Aussage da sei wie «Ich schäme mich, wenn mein Bruder sabbert». Oder: «Ich möchte nicht mit meiner Schwester durch die Stadt laufen.»

Dieser Austausch sei vor allem für Primarschulkinder und Teenager wichtig. Es gehe um Psychohygiene und darum, dass die Geschwister lernen, ihre Stärken zu sehen, so Mackuth-Wicki. Denn viele Geschwister von behinderten Kindern entwickeln viele soziale Kompetenzen und lernen, Verantwortung zu übernehmen.

In Familien mit kleineren Kindern sei hingegen zentral, dass die Eltern eine Anlaufstelle hätten für Fragen und Beratung bekämen, etwa dazu, wie sie die Geschwister miteinbeziehen oder mit ihnen reden könnten, sagt Mackuth-Wicki: «Dass sie zum Beispiel sagen: Ich sehe dich genauso, aber du brauchst weniger Handreichungen als dein Geschwister.»

Weil den Geschwisterkindern oft gemeinsame Zeit mit den Eltern fehlt, gibt es über den Verein auch die Möglichkeit, den Betroffenen Zeit zu schenken. Die Spenden werden für Entlastungs- oder Pflegestunden eingesetzt, damit Geschwister exklusive Zeit mit ihren Eltern haben.