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Wie schlimm steht es um die Güterzüge? Vertraulicher Bericht spricht von «systematischem Problem»

War es nur ein dummer Zufall? Oder war die Güterzug-Entgleisung im Gotthard 2023 ein Unglück, mit dem man jederzeit wieder rechnen muss? Ein bislang vertraulicher Untersuchungsbericht zeichnet ein düsteres Bild der Güterzüge in der Schweiz und in Europa.

Vor eineinhalb Jahren kam es im Gotthard-Basistunnel zum verhängnisvollen Unglück. Wegen eines Radbruchs entgleisten mehrere Güterwagen und zerstörten eine der beiden Tunnelröhren, sodass diese bereits kurz nach der Eröffnung wieder über ein Jahr lang gesperrt werden musste. Zum grossen Glück im Unglück gab es keine Verletzten.

Seit vergangenem Herbst läuft der Bahnbetrieb wieder normal am Gotthard. Die Schäden am Basistunnel sind behoben. Doch im Hintergrund läuft die Aufarbeitung des Güterzug-Unglücks noch immer auf Hochtouren. Erst recht die Klärung der juristischen Frage nach der Verantwortung und der Antwort darauf, wer für die Schäden dereinst geradestehen muss.

Mitten in diese Aufarbeitung platzt nun SRF mit der Nachricht, dass sich ein Güterzug-Unglück wie jenes vom Gotthard jederzeit wiederholen kann. Die «Rundschau»-Redaktion des Fernsehens und Radios (SRF) der deutschen Schweiz beruft sich in ihrem am Mittwoch veröffentlichten Beitrag auf einen bislang vertraulichen Bericht der Schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust).

Nicht Instandhaltung ist Problem, sondern Räder an sich

Laut den Recherchen der «Rundschau» zeigt dessen Entwurf: Es war keine Verkettung unglücklicher Umstände. Das Problem beim Güterzug-Unglück im Gotthardbasistunnel liege vielmehr beim Bremssystem, das bei den allermeisten Güterwagen zum Einsatz kommt. Das allein ist laut bisherigem Wissensstand zwar noch nicht wirklich neu, gingen verschiedene Vermutungen doch bereits in diese Richtung.

Doch laut dem vertraulichen Entwurf des Untersuchungsberichts zeigen Abklärungen zum kritisierten Radtyp in anderen europäischen Ländern, dass es damit zahlreiche vergleichbare Probleme gibt. Diese hätten einfach bislang nie zu Unfällen mit dieser Tragweite geführt. Wobei anzumerken ist, dass es je nachdem noch viel schlimmer kommen könnte. Denn im Gotthard geschah der Unfall in einem eingleisig geführten Tunnel.

Konkret steht im Entwurf des Untersuchungsberichts zum Gotthard-Unglück:

«Der Radscheibenbruch ist nicht auf einen Instandhaltungsmangel der Radsätze des Wagens 466-2 zurückzuführen […] Es handelt sich hier um ein systematisches Problem.»

Denn die Untersuchung brachte laut SRF ans Licht, dass alle Räder des Unfallwagens «die gleichen Rissmerkmale aufwiesen» – obwohl sie zum Teil deutlich neuer waren. Solche Ermüdungsrisse entstehen durch «thermische Überbelastung». Sprich: Wenn sich das Rad erhitzt.

Erstmals nennt der vertrauliche Sust-Bericht zudem Zahlen: So entdeckten Experten aus ganz Europa nach dem Gotthard-Unglück 77 weitere Fälle von Rissen, bei 10 war das Rad sogar bereits gebrochen. Doch mehr als eine unverbindliche Empfehlung für einzelne Radtypen, die bereits stark abgefahren sind, gab die europäische Aufsichtsbehörde laut SRF nicht ab.

Auf Anfrage von CH Media will die Sust die von SRF zitierten Passagen weder bestätigen noch dementieren. Nach einer Vernehmlassung des Berichts werde dieser nun finalisiert. Voraussichtlich im April solle dann die Endfassung des Untersuchungsberichts veröffentlicht werden.

Experten kritisieren Umgang mit Wissen um Probleme

Gegenüber der «Rundschau» kritisieren überdies mehrere Experten, dass das Risiko eines Radbruchs bei praktisch allen Güterwagen mitfahre. Erst recht, da Güterzüge inzwischen schneller unterwegs seien als früher. Entsprechend betonen sie, dass die SBB beim Unglück im Gotthard noch Glück hatte. Denn wenn das Rad eines Güterzuges auf offener Strecke oder in einem Bahnhof breche oder in einem Tunnel mit Gegenverkehr, dann wäre mit Dutzenden von Toten zu rechnen.

Und das gilt laut den Experten nicht nur für die SBB, sondern für alle Bahnunternehmen. Denn die Bremstypen von Güterwagen seien praktisch überall dieselben: nämlich Bremsklötze, wie seinerzeit bereits Pferdekutschen zum Stillstand gebracht wurden. Im Gegensatz dazu stehen bei Eisenbahnwagen für Personen längst Scheibenbremsen im Einsatz.

Entsprechend kommt SRF in seinem Beitrag zum Schluss, dass es sich beim Unglück im Gotthard-Basistunnel mit dem Güterzug nicht um eine Verkettung unglücklicher Umstände handeln konnte, sondern dass es ein Unglück mit Ansage war. Und sich dieses jederzeit wiederholen kann.