
Der grosse Steuerkompromiss: Die FDP verteidigt Steuererhöhungen und die SP die Entlastung von Gutverdienern
«Bis zu 2500 Franken mehr Steuern für Mittelstandsfamilien. Wollt ihr das wirklich, liebe FDP, GLP, SP und Grüne?», twitterte der künftige Mitte-Präsident Philipp Bregy am vergangenen Sonntag genüsslich. Er nahm Bezug auf einen Artikel der «SonntagsZeitung» zur Einführung der Individualbesteuerung.
Der Artikel sorgte auch am Mittwoch noch für rote Köpfe in der Wandelhalle – und gab einen Vorgeschmack auf den Abstimmungskampf. Doch dazu später.
Der Nationalrat diskutierte den Gegenvorschlag zur Initiative der FDP Frauen, welche die Einführung der Individualbesteuerung fordert. Ehepaare sollen nicht mehr gemeinsam, sondern einzeln veranlagt werden. Damit sollen die Erwerbsanreize für Frauen steigen – und die steuerliche Heiratsstrafe soll abgeschafft werden.
Um die Abschaffung der Heiratsstrafe wird seit 41 Jahren gerungen. Alle Parteien sind dafür, über das «Wie» gehen die Meinungen indes auseinander.
Steuerausfälle von 600 Millionen Franken
FDP, GLP, SP und Grüne sind für die Individualbesteuerung. Sie haben einen Kompromiss geschmiedet, der im Nationalrat eine wichtige Hürde genommen hat. Künftig sollen die Ehepartner einzeln besteuert werden, dadurch fällt die stärkere Besteuerung des Zweiteinkommens wegen der Progression weg. Profiteure der Reform sind insbesondere Doppelverdienerehepaare mit Kindern. Weil die Kinderabzüge hälftig aufgeteilt werden, profitieren jene Paare stärker, die eine gleichmässige Einkommensaufteilung haben.
Gratis ist die Steuerreform nicht zu haben. Der Bundesrat machte einen Vorschlag, der zu Steuerausfällen von 870 Millionen Franken für den Bund führen würde. Der Nationalrat stimmte diesem Vorschlag in der ersten Runde zu. Doch der Ständerat korrigierte die Vorlage massiv. Er machte sie nicht nur freundlicher für Einverdienerehepaare, sondern verschärfte auch die Progression. Damit reduzierte er die Ausfälle auf 370 Millionen Franken – für die FDP wurde die Vorlage damit ungeniessbar.
FDP, SP, GLP und Grüne zimmerten einen Kompromiss: Eine Reform, die zu Steuerausfällen von 600 Millionen Franken führt. Die Linke ist bereit, diese Ausfälle mitzutragen. Sie sind nötig, wenn man die Zweiteinkommen weniger stark besteuern will, um die Erwerbsanreize zu erhöhen. Die Steuersenkungspartei FDP wiederum schluckt höhere Steuern in gewissen Konstellationen. Insgesamt produziert die Reform deutlich mehr Gewinner als Verlierer. Laut Schätzungen des Bundes werden dennoch 14 Prozent aller Steuerpflichtigen von einer Mehrbelastung betroffen sein, schrieb die NZZ kürzlich. In der Bundesratsvorlage waren es nur 11 Prozent.
Was gehört noch zum Mittelstand?
Womit wir bei den Verlierern und damit beim Eingangs zitierten Artikel wären. «Viele Familien im Mittelstand müssten mit einem Schlag 2500 Franken mehr zahlen», titelte die «SonntagsZeitung». Mitte-Nationalrat Leo Müller sagte im Namen seiner Fraktion: «Am härtesten würde es Mittelstandsfamilien mit Kindern und einer traditionellen Rollenverteilung treffen. Die Interessen dieser Gruppe sind hier im Saal offenbar nicht mehr vertreten.»
Unbestritten ist, dass die Reform für Ehepaare mit einer traditionellen Rollenteilung – der Mann arbeitet auswärts und die Frau kümmert sich um Haus und Kinder – nachteilig sein kann. Das ist einerseits gewollt, weil die Reform ja die Beschäftigung von Frauen erhöhen soll. Andererseits stört sich FDP-Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher an der Sichtweise: «Einverdienerehepaare haben über Jahrzehnte einen Heiratsbonus bekommen. Sie müssen nun punktuell mit einer moderaten Steuererhöhung rechnen, weil ihr Privileg abgeschafft wird.»
Vincenz-Stauffacher wie auch SP-Nationalrätin Céline Widmer weisen daraufhin, dass nur noch 2,2 Prozent der Haushalte traditionelle Einverdienerehepaare mit Kindern sind. Beide fragen zudem rhetorisch, ob eine Familie mit einem steuerbaren Einkommen von 150’000 Franken tatsächlich noch Mittelstand sei. Die in den Medien breitgeschlagene Mehrbelastung von 2500 Franken bezieht sich nämlich auf Einverdienerehepaare mit Kindern und einem steuerbaren Einkommen von 150’000 Franken.
Nachteil Stocker, Vorteil Caroni
In trockenen Tüchern ist die Vorlage noch nicht. Im Juni ist der Ständerat am Zug – und dort wird es zu einem eigentlichen Polit-Krimi kommen. Die Befürworter der Individualbesteuerung haben den Nachteil, dass der Schaffhauser Ständeratssitz von Simon Stocker (SP) derzeit verwaist ist. Das Bundesgericht hatte seine Wahl annulliert – und die Ersatzwahl findet erst Ende Juni statt. FDP, SP, GLP und Grüne kommen aktuell im Ständerat auf 23 Sitze – die Kontrahenten aus Mitte und SVP auf 22. Wenn niemand fehlt, sollte die Reform also auch in der kleinen Kammer die Hürde nehmen. Kommt es zum Patt hätten die Befürworter noch einen Trumpf in der Hand: der Freisinnige Ständeratspräsident Andrea Caroni könnte dann nämlich den Stichentscheid fällen.