
Heisse Debatte um Kantonsreferendum: Aargau erzwingt Volksabstimmung über neues Steuersystem
Das Kantonsreferendum zur Individualbesteuerung war im Aargauer Parlament am Dienstag stark umstritten. SVP, Mitte und EVP sprachen sich dafür, FDP, GLP, SP und Grüne dagegen aus. Der Grosse Rat hiess das Kantonsreferendum nach einer über einstündigen Debatte mit 71 Ja zu 59 Nein gut. Genau das hatte der Regierungsrat mit Finanzdirektor Markus Dieth (Mitte) dem Parlament beantragt.
National- und Ständerat hatten der Vorlage zur Individualbesteuerung zugestimmt. Für ein Kantonsreferendum müssen sich acht Kantone innert 100 Tagen nach der amtlichen Publikation eines Bundesgesetzes aussprechen. Der Aargau ist der achte Kanton, damit kommt es zur Volksabstimmung über die Einführung des neuen Steuersystems.
«Totalumbau der 26 kantonalen Steuergesetze»
Mit der Individualbesteuerung soll die sogenannte «Heiratsstrafe» abgeschafft werden. Beide Ehepartner sollen neu eine eigene Steuererklärung ausfüllen und separat Steuern zahlen, so wie Konkubinatspaare heute schon. Das Bundesparlament will damit mehr Steuergerechtigkeit schaffen und einen Anreiz setzen, dass beide Ehepartner mehr arbeiten und dem Fachkräftemangel entgegenwirken.
Die Beseitigung der Heiratsstrafe auf Bundesebene begrüsst der Aargauer Regierungsrat. Er lehnt aber den damit verbundenen «Totalumbau der 26 kantonalen Steuergesetze sowie die unnötige administrative Verkomplizierung für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ab», wie er in einer Mitteilung nach dem Entscheid des Grossen Rats schreibt. «Der komplette Systemwechsel würde zudem neue Ungleichbehandlungen schaffen.»
Manche Familien zahlen mehr – andere weniger
Die Individualbesteuerung hätte zur Folge, dass ein Teil der Ehepaare mehr, ein anderer Teil weniger Steuern zahlen müsste. Ein Grossrat und eine Grossrätin warben mit ihrer eigenen Situation für respektive gegen das Kantonsreferendum.
Andreas Fischer Bargetzi (Grüne), verheiratet und Vater von drei Kindern, sagte: «Seit 2008 haben wir jedes Jahr 3500 Franken mehr Steuern bezahlt, als wenn wir im Konkubinat gelebt hätten. Insgesamt also 60’000 Franken», sagte er. «Das sollte allen Befürwortenden des Kantonsreferendums zu denken geben.»
Anders klang es bei Nicole Burger (SVP), die verheiratet und vierfache Mutter ist. Ihr Mann, der Leitende Staatsanwalt Simon Burger, habe ein höheres Einkommen, sie ein tieferes. Mit der Individualbesteuerung würden sie bestraft, kritisierte Burger. Sie brachte ein weiteres Argument vor: «Denken Sie an meinen Mann, damit er in Zukunft nicht zwei Steuererklärungen ausfüllen muss.»
Steigt die Bürokratie massiv?
Zu kompliziert und zu teuer: Mit diesen Argumenten warb Hansjörg Erne (SVP) für das Kantonsreferendum. Er verwies auf Initiativen, die Verbesserungen bezüglich der Heiratsstrafe bringen würden. Die SVP kritisiert, dass das neue System höhere Personalkosten bei den Steuerämtern von Kanton und Gemeinden bringen werde. Auch Rita Brem-Ingold (Mitte) befürchtete «einen ungeheuren Aufwand an Bürokratie». Die Kantone müssten nicht nur Mehrkosten stemmen, sondern auch mit tieferen Steuereinnahmen rechnen. Der Regierungsrat hat in seiner Botschaft einen dreistelligen Millionenbetrag genannt.
Uriel Seibert (EVP) sprach von einem «fauligen, stinkenden Kompromiss» des Bundesparlaments, den 170’000 verheirateten Menschen zwinge das neue System viel mehr Bürokratie auf. Er verwies auf die 140’000 zusätzlichen Steuerdossiers im Kanton Aargau – auch diese Zahl stammt vom Regierungsrat. Mit dem Vollsplitting verfüge der Aargau über eine deutlich effizientere Alternative, so Seibert.
Ehepaare mit Kindern müssten heute bis zu 50 Prozent mehr Steuern zahlen, sagte Carol Demarmels (SP). Das Splitting-Verfahren bezeichnete sie als gescheitert – es sei kein Mittel zur Beseitigung der Heiratsstrafe. Im Gegenteil: Es zementiere die aktuellen Verhältnisse. Sie warb für das neue Steuersystem, indem sie von «einer Investition in Gleichstellung und Steuergerechtigkeit» sprach. Viele Familien würden mehrere Tausend Franken sparen.
«Herzlich willkommen im 21. Jahrhundert – ausser im Kanton Aargau», sagte Adrian Schoop (FDP). Hier werde die Heiratsstrafe immer noch vehement verteidigt, kritisierte er den Regierungsrat. «Das heutige Steuersystem begünstigt ein einziges Familienmodell: eine Person arbeitet viel und die andere nicht oder wenig», kritisierte Gian von Planta (GLP). «Wir möchten unser Steuersystem den gesellschaftlichen Realitäten anpassen.» Wie von Planta und Schoop widersprach Andreas Fischer Bargetzi, dass die Individualbesteuerung ein «Bürokratiemonster» sei.