
In den USA oder Ungarn ist die Meinungsäusserung sehr real in Gefahr
In einem Meinungsbeitrag beklagt sich René Scheu, Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik, dass heute Leute gecancelt würden und ein falsches Wort genüge, um Karrieren zu beenden. Erleben wir gerade eine massive Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit?
Das kurze Gedächtnis von René Scheu irritiert. Er erinnert sich nicht an die Normalität in früheren Zeiten – als man angeblich noch frei reden durfte. In den 80er Jahren konnten Mitglieder der linken POCH im Kanton Luzern nicht als Lehrperson arbeiten. Schwule versuchten es meist gar nicht und sie landeten in der Schwulenkartei, fichiert und registriert wie so manch andere Person.
Auf dem Land abonnierte man die Zeitung Vaterland, um nicht als links zu gelten. Generationen können ein Lied davon singen, wie sie zum Gottesdienstbesuch gezwungen wurden. Vielleicht dachten sie ja was ganz anderes, aber sie sprachen es nicht aus. Konformität und Anpassungsdruck waren viel stärker.
René Scheu zitiert aus dem Buch «Angststillstand» von Richard Precht, der sich über das Überhandnehmen der Moral beklagt und dass sich die Menschen ständig angegriffen fühlten. Er malt ein Bild einer Gesellschaft, in der nur noch hinter vorgehaltener Hand die Meinung gesagt werde.
Tatsächlich zeigen Studien, dass eine zunehmende Zahl von Menschen in Deutschland angibt: Ich sage nicht mehr, was ich sagen möchte. Umfragen von Allensbach zum Thema geben zu denken. Allerdings gibt es Kritik an diesen Studien. So drücken sie aus, wie der Eindruck der Leute ist und messen keine effektiven Aussagen. Die Fragen waren auch etwas flach. So wurden die Teilnehmer gefragt, ob es sie nerve, wenn andere versuchen, ihnen eine Sprachregelung aufzudrängen. Ich glaube, sowas nennt sich Suggestivfrage.
Gleichzeitig zeigt die neueste Allensbach-Studie, dass viele Menschen zwar der Meinung sind, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt, selber aber auch rasch ein Verbot von Aussagen fordern. So befürwortet die Hälfte der Teilnehmenden ein Verbot für die Aussage, dass Soldaten Mörder seien. Für dieses Verbot haben sich wahrscheinlich keine woken Linken in der Umfrage ausgesprochen, sondern genau jene, die sich selber in ihrer Meinungsäusserung eingeschränkt fühlen. Alles etwas widersprüchlich.
Was aus meiner Sicht zentral ist und bei diesen Studien ausgeblendet wird: Ein Teil der politischen Parteien – das fängt in Deutschland bei der AfD und bei uns bei der SVP an, geht aber weit darüber hinaus – erzählt mantramässig, man dürfe ja nicht mehr alles sagen und sie stilisiert jede Zigeunerschnitzeldiskussion zu einer Cancel-Culture-Diskussion hoch.
Das hat seine Wirkung, insbesondere durch die Verstärkung in den Medien. Und ausgerechnet Richard Precht, der die Meinungsäusserungsfreiheit in Gefahr sieht und Zensur wittert, hat eine sehr grosse Medienpräsenz. Er wird ganz sicher nicht gecancelt.
Gewisse Leute sind verärgert, dass ihre Meinung aufgrund des gesellschaftlichen Wandels nicht mehr mehrheitsfähig ist. «Man darf das doch wohl sagen dürfen»: Ja klar, nur zu, aber man muss mit dem Widerspruch umgehen können. Das gilt für linke Personen, vielleicht ist es neu, dass auch rechtskonservative Kreise dies lernen müssen.
Unsere Meinungsäusserungsfreiheit ist nicht in Gefahr, weil es eine Diskussion gibt, wie ein Süssgebäck mit Schokoladenüberzug genannt wird. Doch es gibt auch bei uns Handlungsbedarf: Die Medienlandschaft verödet und deckt immer mehr Diskussionen nicht mehr ab und auf den sozialen Plattformen werden polarisierende Aussagen hochgepusht und gleichzeitig legen die Herren dieser Plattformen willkürlich fest, welche Äusserungen sie zulassen oder canceln.
Der US-Präsident straft einzelne Politiker wegen ihrer Aussagen ab oder verfügt gleich gegen das ganze Land Zölle: Da ist die Meinungsäusserung sehr real in Gefahr. Dazu kommen autokratische Regierungen, die wie in Ungarn Menschenrechte massiv einschränken, queere Personen aus dem Strassenbild weg haben wollen und ihnen jedes Recht auf Demonstrationen nehmen.




