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Zahl der Misshandlungen nimmt auch 2022 weiter zu

Die Schweizer Kinderkliniken haben im vergangenen Jahr knapp 1900 Kinder und Jugendliche nach einer Misshandlung betreut. Das sind deutlich mehr als im Vorjahr.

Körperliche oder psychische Misshandlungen, Vernachlässigungen, sexueller Missbrauch und Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: Die Fachgruppe Kinderschutz hat im vergangenen Jahr erneut alle Kinder und Jugendlichen bis 17 Jahre erfasst, die wegen einer vermuteten oder erwiesenen Misshandlung in einer Schweizer Kinderklinik betreut oder behandelt worden sind.

Und die Daten von 20 Kliniken zeigen: Die Zahl der Fälle hat im Vergleich zum Vorjahr «deutlich» zugenommen. Das teilte die Schweizer Gesellschaft für Pädiatrie am Dienstag mit. Konkret wurden 1889 Fälle gemeldet – 14 Prozent mehr als im Vorjahr. Damit verzeichnet die Fachorganisation in der nationalen Kinderschutzstatistik «eine stetige Zunahme» der Fallzahlen über die Jahre.

Der Grund für den Anstieg ist unklar. Einerseits könnte es tatsächlich mehr Misshandlungen geben, andererseits könnten dank der Sensibilisierung der Bevölkerung mehr Kinder und Jugendliche an die Kinderschutzgruppen gelangen. Dies sei mit diesen Daten nicht abschliessend zu klären.

Mädchen häufiger betroffen als Jungen

Mädchen sind mit 56 Prozent der Fälle noch immer häufiger betroffen als Jungen. Sie werden vor allem deutlich häufiger wegen sexuellen Missbrauchs oder des Verdachts darauf in den Kinderkliniken betreut. Zudem werden bei ihnen etwas häufiger psychische Misshandlungen festgestellt oder vermutet. Bei Jungen gibt es dafür mehr körperliche Misshandlungen.

Und es zeigt sich: Die Opfer sind sehr jung. Knapp 45 Prozent aller erfassten Kindern hatten ihren 6. Geburtstag noch nicht erreicht, wie es in der Mitteilung weiter heisst. Die Täterinnen und Täter stammen vor allem aus dem familiären Umfeld.

In 70 Prozent der Fälle benötigten die Kinder und Jugendlichen keine medizinischen und/oder therapeutischen Massnahmen. Allerdings seien im vergangenen Jahr auch zwei Kinder im ersten Lebensjahr in Schweizer Kinderkliniken verstorben. Hier bestand der Verdacht, dass ihr Tod durch körperliche Misshandlung beziehungsweise Vernachlässigung verursacht wurde.

Häusliche Gewalt miterleben als grosses Problem

Kinder und Jugendliche erleben oft mehrere Formen von Misshandlungen. Zu Vergleichszwecken wird jeweils die gravierendste Form erfasst. Hier zeigen sich laut Pädiatrie Schweiz bezüglich Diagnosen keine relevanten Veränderungen im Vergleich zum Vorjahr. Körperliche Misshandlungen und Vernachlässigungen würden noch immer am häufigsten diagnostiziert.

Einen «geringen Anstieg» verzeichneten die Experten bei den psychischen Misshandlungen. Der Grund: Mehr Kinder und Jugendliche mussten häusliche Gewalt miterleben. Dieses Miterleben wird in der Hälfte der Fälle als Ursache für psychische Misshandlung genannt. «Das Miterleben von verbalen und/oder körperlichen Auseinandersetzungen in ihrem Daheim ist für Kinder und Jugendliche eine extreme psychische Belastung», schreibt die Fachorganisation.

Schwierige Diagnose

Die Kinderschutzgruppen haben die Diagnose einer Misshandlung in 53,5 Prozent als «sicher» und in 24,6 Prozent als «wahrscheinlich» eingestuft. In 21,6 Prozent war es «unklar». Die Sicherheit der Diagnose blieb bei psychischen Misshandlungen bei 66 Prozent, beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom nahm sie sogar deutlich zu. Bei den anderen Formen wurde die Diagnose dagegen häufiger als in den Vorjahren als «wahrscheinlich» oder «unklar» klassifiziert, wie es weiter heisst.

Dies zeige die Schwierigkeiten, mit denen die Fachleute der Kinderschutzgruppen oft konfrontiert seien. Klare Beweise für eine Misshandlung lassen sich laut Pädiatrie Schweiz nur in einem geringen Teil der Fälle finden. Häufig müssen die Experten die Umstände bewerten und so zu einer gemeinsamen Einschätzung kommen. (abi)