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Die EU verstösst gegen ihre eigenen Abkommen – eine Chance für den Bundesrat

Die Verträge von Schengen, Dublin und Maastricht funktionieren nicht wie geplant. Für die Schweizer Regierung ist das ein guter Moment, um eine Schutzklausel bei der Zuwanderung einzufordern. Unser Kommentar.

Deutschland setzt das Schengener Abkommen ausser Kraft. Grenzkontrollen zwischen den Vertragsstaaten wären nur in Ausnahmelagen und für eine begrenzte Zeit möglich. Deutschland führt an der Grenze zu Tschechien, Polen und der Schweiz aber seit vergangenem Oktober Kontrollen durch, um unerlaubte Einreisen zu unterbinden. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) verlängert die Anomalie immer weiter, zum Missfallen von Bundesrat Beat Jans (SP).

Italien verstösst derweil gegen das Dubliner Übereinkommen. Das Land müsste Migranten aufnehmen, die in Italien ankamen, dort registriert wurden und weiterreisten. Rom lehnt die sogenannten Rückübernahmen jedoch ab.

Personenfreizügigkeit ist nicht sakrosankt

Auch der Vertrag von Maastricht ist ein toter Buchstabe. Die Konvergenzkriterien sehen vor, dass die Neuverschuldung der Mitgliedstaaten in einem Jahr 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts nicht übersteigen darf. In Frankreich waren es im vergangenen Jahr 5,5 und in Italien gar 7,4 Prozent. Die EU sieht von den vorgesehenen Sanktionen ab und wendet stattdessen «individuelle» – also sanfte – Massnahmen an.

Diese Vertragsverletzungen sind für die Schweiz relevant, weil das Land derzeit mit der EU über ein neues Vertragspaket verhandelt. Der Bundesrat wünscht eine Schutzklausel bei der Personenfreizügigkeit. Die Nettozuwanderung liegt nahe bei 100’000 Personen. Der Bau neuer Wohnungen hält nicht Schritt mit dieser Entwicklung. Einzig Luxemburg registriert eine vergleichbar hohe Zahl an Zuzügerinnen und Zuzügern.

Quer durch die politischen Parteien wächst in der Schweiz die Skepsis gegenüber der starken Einwanderung. Es ist darum richtig, dass sich der Bundesrat um eine Schutzklausel bemüht. Ziel muss es sein, dass die Schweiz mit einer Begrenzung reagieren kann, wenn die Zuwanderung für längere Zeit hoch ist.

Vertreter der EU-Kommission geben sich abweisend. Die Personenfreizügigkeit ist für sie in Stein gemeisselt. Der Schweiz soll höchstens zugestanden werden, dass sie eine Zuwanderung in ihre Sozialwerke verhindert.

Dieser Rigorismus ist deplatziert. Die Schweiz gehört nicht der EU an, aber sie hat die Verträge von Schengen und Dublin unterschrieben. Die Schweiz ist unmittelbar davon betroffen, dass sich EU-Staaten nicht länger an die Abkommen halten. Der Bundesrat versucht, Deutschland und Italien zur Vertragstreue anzuhalten. Die Appelle bleiben wirkungslos. Trotzdem schreit die Regierung nicht Zeter und Mordio.

Dem Vertragspaket droht der Absturz

Die Zurückhaltung des Bundesrats hat einen Grund: Es ist offensichtlich, dass die Realität von den Annahmen abweicht, die bei der Aufsetzung der Verträge getroffen wurden. Das Dubliner Übereinkommen sieht vor, dass Asylgesuche nicht in mehreren Ländern gestellt werden dürfen. Das ist nachvollziehbar. Die Regelung hat aber zu einer Überlastung der Aufnahmekapazität Italiens geführt.

Bei der Personenfreizügigkeit ist es ähnlich: Sie hat nicht die Effekte, von denen die EU-Funktionäre ausgingen. Die wirtschaftliche Angleichung in Europa vollzieht sich nicht wie angenommen. Die Niederländer klagen über eine Wohnungskrise, verursacht durch eine hohe Zuwanderung. Kroatien ist hingegen daran, sich zu entvölkern. Die kroatische Tourismusbranche ist auf Arbeitskräfte aus Südostasien angewiesen.

Der Bundesrat kann von der Europäischen Union nun jene Flexibilität einfordern, den ihre Mitglieder selber praktizieren. Das Vertragspaket bringt der Schweiz eine Einbusse an Souveränität. Das ist eine hohe Hürde in einer Volksabstimmung. Eine Schutzklausel bei der Zuwanderung würde das Abkommen aus Schweizer Sicht hingegen erheblich aufwerten. Verharrt die EU-Kommission in ihrer ablehnenden Haltung, sollte ihr der Bundesrat klarmachen: Dem Vertragspaket droht das gleiche Schicksal wie in der ersten Auflage im Jahr 2021. Es scheiterte.