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Ulrich Siegrist: Die frühere Reizfigur der SVP Aargau feiert ihren 80. Geburtstag

Der ehemalige SVP-Politiker lässt sich in kein Schema pressen. Als Regierungsrat rettete er das Sagimülitäli vor dem Autobahnbau. Und ohne offiziell zu kandidieren, wäre er vor 25 Jahren fast Bundesrat geworden. Der Jubilar spannt den Bogen zur Aktualität und spricht über einen besonderen Wunsch.

Der Rechtsanwalt aus Lenzburg gehörte von 1983 bis 1999 der Kantonsregierung an. Als Bau- und Finanzdirektor war er viermal Landammann. Während acht Jahren sass Ulrich Siegrist anschliessend im Nationalrat. Für die Nachfolgewahl von Bundesrat Adolf Ogi am 6. Dezember 2000 lehnte der Aargauer eine Kandidatur zwar ab. Dennoch schaffte er es bis in den sechsten Wahlgang und unterlag Samuel Schmid mit 83 gegen 121 Stimmen. Der damalige SVPler war ausserdem Oberst im Generalstab und präsidierte von 2000 bis 2005 die Schweizerische Offiziersgesellschaft.

Staatsmännisch steht Ulrich Siegrist nun auf der Treppe zum Eingang ins Regierungsgebäude. Zu seinem 80. Geburtstag am 4. Juni blickt er nochmals zurück. In der Eingangshalle bedient er sich mit den neusten Broschüren zu Nachhaltigkeit/Klima und zum Entwicklungsleitbild 2025–2034 des Kantons Aargau. «Solche Unterlagen zum Mitnehmen gab es zu meiner Regierungszeit noch nicht», sagt Siegrist und steigt nochmals eine Treppe hoch. In der sogenannten Ahnengalerie vor dem Sitzungszimmer des Regierungsrats hängt seit rund einem Jahr ein Porträt von ihm, das Cosimo Gritsch gemalt hat.

Cosimo Gritsch hat das Porträt von Ulrich Siegrist für die Ahnengalerie im Regierungsgebäude gemalt.
Bild: Sandra Ardizzone

Bundesrat Schlumpf vom Sagimülitäli überzeugt

Der Weitsicht und Hartnäckigkeit des jungen Baudirektors Siegrist verdankt der Aargau unter anderem, dass der Autobahnbau der N3 zwischen Frick und Birrfeld nicht durch das Sagimülitäli führte. Einsprachen gab es keine mehr. Alle Instanzen bis zum Bundesgericht hatten das Projekt freigegeben. Siegrist aber rollte grosse Teile des Projekts im Schinznacherfeld und beim Sagimülitäli gegen den Rat der Ingenieure neu auf und überzeugte zuerst seine Regierungskollegen und dann Bundesrat Leon Schlumpf in Bern.

Dies erwies sich nicht nur als Geschichte eines Bauwerks, sondern als Anfang des grossen Naturparks Jura. Dieser Wandel im Strassenbau sei in einem grösseren Zusammenhang zu sehen mit der neuen Verknüpfung von Raumplanung und Verkehrsplanung, mit einem erträglichen Miteinander von Menschen, Verkehr und Umwelt, so der Altregierungsrat.

Bei der Einweihung der Stätte der Erinnerung am oberen Ende des Sagimülitälis im Oktober 2021 ist auch alt Regierungsrat Ulrich Siegrist (links) dabei.
Bild: Claudia Meier

Als Bub wollte der Sohn des Weinhändlers Gottlieb Siegrist aus Fahrwangen Bauer werden. Später Baumeister. An der Kanti wuchs bei Ulrich das Interesse an der Land- und Forstwirtschaft. Lange überlegte er auch, ob er Philosophie und Geschichte studieren soll. Schliesslich entschied er sich für die Rechtswissenschaft, was er nie bereute. Mit 32 Jahren wurde er in Lenzburg zum Gerichtspräsidenten gewählt.

Spannungen mit der SVP führten zum Parteiaustritt

Seine Politkarriere begann 1979 im Grossen Rat. Schon vor der Gründung der Grünen Partei engagierte sich Siegrist für den Natur- und Landschaftsschutz. Der Konservative machte sich als «Grüner Ueli» einen Namen. In den 1980er-Jahren verabschiedete der Kanton Aargau Schutzdekrete für den Hallwilersee, den Klingnauer Stausee und das Wasserschloss. Die SVP war 1991 die erste Partei, die sich für die Einführung der CO2-Abgaben aussprach und für naturschonende Landwirtschaft. «Das war einmal», fügt Siegrist an.

Später gab es Spannungen zwischen dem Aargauer und der SVP, namentlich in Fragen der Menschenwürde, der Empathie für andere Völker, des Stils und Inhalts der Politik. Dazu die Differenzen in der Umweltpolitik und in der Sicherheitspolitik. Ab der Jahrtausendwende war die Partei in Siegrists Augen eine andere geworden. Im Mai 2006 folgte sein Austritt. Es war für ihn ein enorm schwerer Schritt, aber heute bereut er ihn «erst recht» nicht.

Nationalrat Ulrich Siegrist posierte im Juli 2006 in der Lenzburger Altstadt.
Bild: Alex Spichale

Zu den Nationalratswahlen im Herbst 2007 trat der Lenzburger auf der Liste des wenige Monate zuvor gegründeten Forums Liberale Mitte an. Dieses sah sich als eine wirtschaftsliberale und ökologisch ausgerichtete Zentrumsplattform. Siegrist verpasste allerdings die Wiederwahl und schied im Dezember 2007 aus der aktiven Politik aus. «Das war etwas naiv. Im Kanton Zürich hätten wir mit unserem Stimmenanteil von vier Prozent ein bis zwei Sitze gewonnen», sagt er rückblickend.

Der Lenzburger vermisst den Grundoptimismus

Von da an war Siegrist noch Lehrbeauftragter für Staatsrecht an der ETH Zürich, Präsident von «Brot für alle» sowie Experte für Stabilitäts- und Friedensprojekte in Afrika. Daneben hatte er ein eigenes Anwaltsbüro und widmete sich seinem Interesse für philosophisch-ethische Fragestellungen. Einer neuen Partei schloss er sich nicht mehr an. 2021 schied er auch aus dem Stiftungsrat des Forschungsinstituts für biologischen Landbau aus, das er seinerzeit in den Aargau geholt hatte.

Nach einem Unterbruch verfolgt Siegrist die Tagesaktualität wieder intensiver. Mit Blick auf den US-Präsidenten sagt er: «Das Phänomen hinter Trump ist leider symptomatisch. Wir sind auf dem Weg zu einer neuen Weltordnung. Diese beruht auf ein paar wenigen autoritären Machtzentren und ist das Gegenteil von dem, was man über ein halbes Jahrhundert lang mit dem Demokratieaufbau und der Rechtsentwicklung versucht hat.» Das werde vertikale Auswirkungen haben auf alle Schichten der Gesellschaft in verschiedensten Ländern.

Mit dieser Entwicklung würden Verlustängste geschürt, um den Sozialstaat, um Arbeitsplätze und um alles Erreichte. Die Ängste dominierten die Politik und würden zum Teil von der SVP und der SP bewirtschaftet, was zu Immobilität führe und zur Unfähigkeit der Mitte, sich zu bewegen. In Siegrists Aktivzeit sei in Europa noch Grundoptimismus zu spüren gewesen. Der Glaube daran, dass es jeder nächsten Generation etwas besser gehe. Diesem Glauben fehle derzeit die Energiezufuhr.

Für Siegrist steht fest, dass Fortschrittspolitik auf der Vergangenheit beruht, weshalb man ihn auch schon «den progressiven Konservativen» nannte: «Wir leben alle in einem Erfahrungsraum, der von unseren Eltern, Grosseltern und bei mir auch von der Pfadfinderbewegung geprägt wurde. Mit unseren Zielen, Visionen und Träumen leben wir aber gleichzeitig in einem Erwartungsraum.» Diese zwei Pole zu verbinden, mache den liberalen Konservativismus aus. Heutzutage gehe diese Verknüpfung verloren, stattdessen bildeten sich eigene und konfrontative Identitäten heraus.

Familie kam in der Politlaufbahn zu kurz

Lenzburg und seine Altstadt sind die Heimat des Juristen. Neben dem Erhalt seiner Gesundheit und Zufriedenheit will der 80-Jährige den Kontakt zu seinen beiden Töchtern und den zwei Enkeln besser pflegen. Als Politiker habe er leider oft zu wenig Zeit für sie gehabt. Das gelte auch für seine Ehefrau, von der er getrennt lebe, die er aber immer noch sehr schätze.

Nach einem besonderen Wunsch gefragt, antwortet der Weitgereiste: «Ich würde gerne nochmals vom weltweit besten Krokodilfleisch in einer gut versteckten Beiz in Namibia essen. Oder im ‹Mama Africa› im Schwarzenviertel von Kapstadt einkehren.»

Ulrich Siegrist hat in seinem Leben viel erarbeitet, hatte aber auch viel Glück, wie er selbst sagt. «Die Politik vermisse ich schon, wenn ich ehrlich bin, aber das politische Denken bleibt mir erhalten.» Von der sich breitmachenden Angstmacherei lässt er sich nicht mitreissen. Sein Optimismus sei aber sehr kritisch und gedämpft. Persönlich ist er stolz darauf, dass er seinen Werten und Überzeugungen treu geblieben ist, obwohl ihn das unter anderem den Nationalratssitz gekostet hat.