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«Der Vater ist entweder das autoritäre Arschloch oder der untreue Verräter» – doch das ist das kleinste Problem der neuen Väterromane

Jahrzehntelang haben Autoren ihre eigene Vaterrolle ignoriert – jetzt schreiben sie rührselig darüber. Literaturprofessor Philipp Theisohn erklärt, warum diese neuen Väterromane selten spannend sind und wieso Mütter in der Literatur fast immer die besseren Figuren abgeben.

Generationen von Schriftstellern haben ihre Väter, das Weltgeschehen und ihre Ehefrauen als literarisches Material verarbeitet, aber kaum je ihre eigene Vaterrolle. Max Frisch etwa, nur tröpfchenweise andeutend, in «Montauk», Friedrich Dürrenmatt nirgends, Otto F. Walter, Martin Walser und viele andere auch nicht. Es scheint eine peinliche Ignoranz bei Generationen von Schriftstellern zu herrschen.

Dann gibt es jüngere und erstaunliche Männerbücher wie «Weit über das Land» von Peter Stamm und «Hagard» von Lukas Bärfuss. Deren Hauptfiguren fliehen und verlieren sich, entkoppeln die Reflexion auf Männlichkeit von der Familie und werden quasi Outcasts.

Erst seit wenigen Jahren wird die Vaterrolle literarisch stärker bearbeitet. Heinz Helle in «Wellen» oder aktuell der chilenische Schriftsteller Alejandro Zambra mit «Nachrichten an meinen Sohn». Allerdings kleben diese Bücher tagebuchartig am eigenen Erleben. Literatur spiegelt reale gesellschaftliche und partnerschaftliche Rollenvorstellungen. Und die haben sich stark gewandelt. Entsteht hier nun eine neue Literatur? Befreit von patriarchalem Vaterverständnis, mit einem entspannten Verhältnis zur eigenen Emotionalität?

Philipp Theisohn, Sie sind selbst Vater. Freut es Sie, dass es eine neue Väterliteratur gibt?

Philipp Theisohn:Als Wissenschafter sehe ich darin zunächst einmal eine Komplementärerscheinung zur neuen Literatur der Mutterschaft, die dem vorausgeht und auch durchaus einige stärkere Texte hervorgebracht hat.

Warum sollen die neuen Väterromane schwächer sein?

«Schwächer» ist sicherlich nicht der richtige Ausdruck. Aber es fehlt ihnen natürlich das, was die «Mütterliteratur» in weiten Teilen trägt, nämlich die Kopplung von individueller Erfahrung und Gesellschaftsdiagnose. Die Diskussionen rund um die Mutterrolle werden ja seit langem viel intensiver geführt, das ist ein politisch aufgeladener Diskurs, in dem ganz viele Positionen möglich sind und bespielt werden können – auch antinatalistische. Das von Orna Donath etablierte Sujet «Regretting Motherhood», also das Bedauern, Mutter geworden zu sein, ist ja letzten Endes ein Grundstein der neuen Mütterliteratur. Das, was ich kenne, in der jüngeren Schweizer Literatur etwa Laura Vogt, Julia Weber oder Kyra Wilder, etabliert aus der Skepsis heraus auch Geschichten mütterlicher Selbstbehauptung. Erzählt werden dann Reisen von einem Ich zu einem Wir zu einem Ich, und da gibt es dann auch Heldinnen, die Konflikte durchkämpfen müssen, ohne sie endgültig zu lösen.

Väterromane von Männern erzählen keine solchen Heldengeschichten? Der fürsorgliche Vater und Hausmann ist doch ein Held des Alltags.

Es fehlt in solchen Erzählungen nun einmal die Spannung. Auf Männerseite ist die Situation literarisch ganz anders als auf Frauenseite. Frauen müssen sich in einer Selbstbehauptung auflehnen, Männer müssen verzichten und zur Selbstreflexion kommen. Das Motto dieser neuen Väterromane kann man so zusammenfassen: Ich muss lernen. Und zwar soziales Verhalten, Empathie, Verantwortung. Im realen Leben ist das wichtig. Aber in der Literatur wird das halt langweilig. Vor allem, wenn es, wie Sie selbst festgestellt haben, meist ein tagebuchartiges Nacherzählen von Selbsterlebtem ist. Letztlich Introspektion.

Der 1974 geborene Literaturwissenschafter ist seit 2019 ordentlicher Professor an der Universität Zürich und ein Kenner der Schweizer Gegenwartsliteratur. Theisohn ist zudem Herausgeber der neuen Gesamtausgabe der Werke von Jeremias Gotthelf, die im Diogenes Verlag erscheint, sowie Autor einer soeben erschienenen Biografie Conrad Ferdinand Meyers.

Philipp Theisohn, Literaturprofessor
Bild: Andrea Zahler

Sie sehen darin mehr Mitfühl- oder gar Ratgeberliteratur als spannende Literatur. Ich teile diese Kritik, aber freue mich über diese Romane, auch weil Generationen von Schriftstellern ihre Vaterrolle literarisch ignoriert haben.

Da haben Sie teilweise recht. Aber man muss das geschichtlich einordnen. Gerade die Nachkriegsgenerationen im 20. Jahrhundert hatten mehr als genug damit zu tun, mit den eigenen Vätern abzurechnen. Nicht nur, aber insbesondere in Deutschland hat dieses Thema alles überlagert. Traditionell ist der Vater in der Literatur und in der kulturellen Repräsentation ohnehin eine negative Figur, die überwunden werden soll, aber natürlich sich gerade deswegen immer fortschreibt. Der Vater ist ein Totem, um Freud einmal auf den Kopf zu stellen, und deswegen als Erzähler wie als Erzählter immer mit Schuld verbunden. Deswegen nimmt man seine Position auch gar nicht mal so gerne ein. Der Vater ist ja entweder das autoritäre Arschloch, der untreue Verräter oder der depressive Abwesende oder eine Kombination dieser drei Elemente. Aber immerhin hat man die Wahl. Vom literarischen Standpunkt aus betrachtet, sind das übrigens gar keine so schlechten Figurationen, weil sie zumindest interessante Geschichten liefern.

In neueren Väterromanen geht es darum, eine männliche Position innerhalb eines familiären Konstrukts zu finden. Mich erstaunt, wie unbekümmert und von ganzem Herzen rührselig die Autoren schreiben. Sie haben keine Angst vor Kitsch.

Genau, kitschig. Wenn man so will, ist das die Überwindung der Angst vor den Gefühlen, indem man diese Angst thematisiert.

Rührend, wahrhaftig, tagebuchartig: In seinem neuen Buch berichtet der chilenische Schriftsteller über sein spätes Vaterwerden. Es ist ein Dokument einer totalen Vereinnahmung, inklusive Angst, Begeisterung und literarische Reflexion: Als Schriftsteller kann er sich nur noch Bücher vorstellen, die auch sein kleiner Sohn lesen möchte. Ein wuchtiges, von Emotionalität gesättigtes Buch. (hak)nnAlejandro Zambra: Nachrichten an meinen Sohn. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp, 236 S.

An diesen Büchern bedauere ich, dass sie so stark am Autobiografischen kleben bleiben. Das Leiden von Vätern am Diktat des Patriarchats war ja immer schon ein Thema der Literatur. Sie werden oft zerrieben von ihrer Rolle. Bei Lessings «Minna von Barnhelm», bei Fontanes «Effi Briest» oder auch bei Thomas Manns «Buddenbrooks».

Ihr Begriff der Zerriebenheit ist schon ganz gut. Da sind wir ja doch am entscheidenden Punkt: Was macht Literatur interessant? Es sind Konflikte. Und Konflikte entstehen nur, wenn es starke Positionen gibt: den archaischen, begründungslosen Machtanspruch – oder in gerader Entgegensetzung den radikalen Machtverzicht, den völligen Rückzug aus Familie und Partnerschaft. Das Scheitern der Väter, ihr sich manchmal sprunghaft, manchmal schleichend, aber immer gewalthaft erfahrener Kontrollverlust ist für die Literatur deshalb so interessant, weil in ihm die untergründigen und letzten Endes unauflösbaren Konflikte und Spannungen sichtbar werden. Und deshalb erfahren Sie wohl auch diese gütigen, einfühlsamen Alltagsfiguren in den neuen Väterbüchern vor allem erst einmal als langweilig.

Anders als zum Beispiel bei Jeremias Gotthelf, wo scheinbar die Ordnung der Familie und der Gesellschaft noch in Ordnung ist.

Ein weiter Weg von hier nach dort, und ob man den überhaupt gehen wollen würde, wäre auch erst einmal zu fragen. Aber ja: Vordergründig scheint die Ordnung des pater familias bei Gotthelf noch intakt, und liest man ihn unter den Auspizien von Gleichstellungsaspekten, also im grellen Licht des Heute, dann kommt er sicherlich nicht gut davon. Andererseits sind bei Gotthelf natürlich alle starken Figuren Frauen. Und die stärksten unter diesen dann immer die Mütter, allen voran Anne Bäbi Jowäger, eine traumatisierte wie traumatisierende Mutter, deren seelische Untiefen in der Schweizer Literatur nie wieder durchschritten wurden. Schwach, antriebslos bei Gotthelf hingegen regelmässig die Väter, deswegen müssen sich alle seine Helden dann immer auch Ersatzväter suchen, die dann didaktische Funktionen übernehmen. Also: Auch in dem Punkt ist diese Literatur noch subversiv, wenn man genau hinschaut.