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Literaturtage Zofingen mit Gastland Philippinen: Zwischen Zorn, Zärtlichkeit und Zauberei

Von den Narben der Marcos-Diktatur über urbane Ironie bis zur Wiederentdeckung indigener Mythen: Die Literaturtage Zofingen zeigen die Philippinen als Land der vielen Stimmen und gebrochenen Erinnerungen.

«Die Seele des Landes? Um die Vielzahl der philippinischen Seelen zu zählen, reichen die Finger beider Hände nicht aus.» Der mit dem Archipel eng verbundene Theologe und Germanist Jörg Schwieger verweigert sich gegenüber den mit 80 Zuhörenden gut gefüllten Saal zum Auftakt der Zofinger Literaturtage einer Komplexitätsreduktion. Sein gemeinsam mit Rainer Werning herausgegebene Essay-Band «Handbuch der Philippinen» lässt das Land trotz seiner vielen Perspektiven eher erahnen als ergründen.

Schreiben und Lesen als politischer Akt

Werning betont, wie sehr die Philippinen nach wie vor von einer oralen Kultur geprägt sind. Das Luxusgut Buch verschlingt einen Tagesverdienst. Populäre Formate wie Comics, Spoken Word oder Social-Media-Prosa übernehmen die Rolle, die in Europa dem Roman zukommt. Anspruchsvollere Literatur besetzt kleine Nischen. Mehrsprachigkeit, begünstigt durch die wechselvolle Kolonialgeschichte, zersplittert den Markt. Lesen ist eine Klassenfrage, Bücher liest vor allem die schmale Mittelschicht. Ein einzelnes Buch wandert durch bis zu 20 Hände. Literatur ist kein Selbstzweck, sondern ein Sprachrohr für Erfahrung. Schreiben und Lesen sind identitätsbildende und -sichernde Akte – weit mehr als in Westeuropa.

Zahlen und Fakten zu den Philippinen

Über 110 Millionen Menschen leben auf dem Archipel, fast die Hälfte auf der Hauptinsel Luzon mit der Metropolregion Manila. Nach der spanischer Kolonialzeit (1565–1898) und der US-Herrschaft (1899–1946) prägen Katholizismus, Englisch und westliche Popkultur das Land. Unter der Marcos-Diktatur (1972–1986) erlebten die Philippinen Repression und Menschenrechtsverletzungen. Inmitten grosser Armut und enormer Biodiversität bleibt das Land sprachlich vielfältig: Zwölf Sprachen zählen über eine Million Sprecher, vorherrschend sind Tagalog/Filipino und Englisch. (mif)

Werning erinnert daran, dass die Philippinen längst nicht nur Textilien oder Arbeitskräfte exportieren. In der digitalen Gegenwart sind sie zum stillen Dienstleistungszentrum im Hinterhof der globalen IT-Industrie geworden. Millionen Clickworker und Callcenter-Angestellte löschen Inhalte, programmieren Codes, prüfen Bilder – und räumen den Digitalmüll der Wohlstandsregionen auf.

Sorgfältig analysiertes Mitläufertum

Katrina Tuvera, Tochter eines Marcos-nahen Intellektuellen, wurde in den 1970er-Jahren erwachsen. In ihrem Roman «Kollaborateure» liegt Carlos, einst Nutzniesser des Systems, im Sterben, während draussen ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten läuft. Sein Ringen um ein würdevolles Lebensfazit steckt voller Erinnerungsfragmente, in denen Wahrheit und Selbstrechtfertigung verschwimmen. Tuvera schlägt eine Brücke zwischen individueller Läuterung und kollektiver Aufarbeitung. Leider ist Katrina Tuvera in der Lesung gesundheitlich so angeschlagen, dass keine dem Buch angemessene Diskussion zustande kommt.

Jose Dalisay, einer der meistgelesenen Autoren der Philippinen, führt diesen Blick auf Erinnerung und Verantwortung in die Gegenwart. Sein Roman «Last Call Manila» zeigt, wie die gesellschaftliche Schieflage längst exportiert wird: Millionen Filipinas verlassen unter falschem Namen das Land, um in Pflege-, Reinigungs- oder Servicetätigkeiten im Ausland ihre Familien zu ernähren. Die Literatur dieser Gegenwart erzählt nicht mehr nur von der Vergangenheit, sondern von der ständigen Abwesenheit und zeichnet das Bild eines vibrierenden Manila, in dem Erfolg und Ernüchterung eng nebeneinanderliegen.

Die 70er – oder das Private ist eben doch politisch

Während Dalisay die moralische Müdigkeit der Gegenwart beschreibt, führt die 2023 verstorbene Lualhati Bautista mit «Die 70er» (1983) zurück in die Marcos-Zeit. Im Startpodium vom Sonntag mit Beverly Sjy, Annette Hug und Lina Ermert entsteht das Bild einer Frau, die voller Zorn und Zärtlichkeit schreibt – und sich keinen Deut darum schert, ob ihre mit Gassensprache durchtränkte Prosa die Intellektuellen ihres Landes die Nase rümpfen liess. Sie lässt ihren Roman bewusst auf billigem Zeitungspapier drucken. «In ihren Alltagsschilderungen aus der Perspektive der Mutter Amanda verdeutlicht sie, wie sehr das Private politisch ist», so Annette Hug.

Amanda beobachtet, wie sich ihre Söhne zwischen Anpassung und Widerstand verlieren und die Frauen sich gleichzeitig über die Rolle der Mutter und Ehefrau hinaus emanzipieren. Beverly Sjy bewundert, wie es Bautista gelingt, das Denken und Fühlen jener Zeit einzufangen – und mit welcher Feinfühligkeit sie schildert, wie Amanda um Verständnis für die Wege ihrer fünf Söhne und Schwiegertöchter ringt.

Pointierter Blick auf Standesunterschiede und Pop-Kultur

Nach dieser eindringlichen Rückschau sorgt die während des Marcos-Regimes aufgewachsene Jessica Zafra mit «Ein ziemlich böses Mädchen» für einen Wechsel der Tonlage hin zur Ironisierung der Gegenwart. Zafra, bekannt für ihre Kolumnen, ist ein Kind des amerikanischen Fernsehens und der Popkultur und bildet dies im pfiffigen Mädchen Guadeloupe ab. Diese kann dank ihrer für eine reiche Familie kochenden Mutter im Haus der Almagros wohnen und eine Privatschule besuchen, wo sie die Tochter des Hauses mit Genehmigung der Lehrer abschreiben lässt. Indem Zafra treffsicher schildert, wie Guadeloupe gleichzeitig profitiert und sich emanzipiert, trifft sie mitten ins Herz der Standesunterschiede in Manila. Sie führt eine gleichgültige, selbstbezogene Oberschicht vor, die Ungerechtigkeit hinter Wohlfahrtsfeigenblättern versteckt.

Im Gespräch mit Monika Schärer zeigt sie sich als souverän-selbstironische Frau, die es geniesst, mit ihrer unkonventionellen Art zugleich Schrecken und Vorbild einer selbstbewussten, urbanen Mittelschicht Manilas zu sein. Thomas Sarbachers Lesung einer Teufelsaustreibungsszene ist zum Brüllen komisch. «Wir sind zwar tiefkatholisch, sehen aber keinen Widerspruch darin, Katholizismus, Buddhismus und Naturreligion miteinander zu vermischen», sagt Zafra.

Magie als Form des Widerstandes

«Das menschliche Gehirn hat nur einen Vorteil: Es ist so weich und lecker wie süsse, schlabbrige Reisbällchen.» Mit diesem Satz aus Allan N. Derains Roman «Das Meer der Aswang» öffnet sich das Tor in eine andere Welt. Während viele seiner Landsleute ihre Geschichten in der Stadt oder in der Diaspora verorten, kehrt Derain in die Welt der Geister, Dämonen und Ahnengestalten zurück.

Die Aswang sind halb Mensch, halb Dämon. Sie entzieht sich jeder Zuschreibung – und werden so zum Sinnbild philippinischer Überlebenskraft. In ihrer Verwandlungsfähigkeit spiegelt sich ein Volk, das sich der Vereinnahmung durch Kolonialismus und Diktatur entzieht.

Derains Sprache mischt Erzähltradition, Folklore und Gegenwart – ein literarischer Beweis, dass sich die Philippinen trotz Jahrhunderten der Kolonialisierung ihre Magie bewahrt haben. Wo andere Verlust sehen, feiert Derain die Kraft der Imagination als Form des Widerstands. So endet das Festival mit einem schamanischen Nachhall – als Erinnerung daran, dass am Ende die Geschichten bleiben.

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