
Die Individualbesteuerung stärkt die Familien
Es war ein Politkrimi, als in der Sommersession der Ständerat als zweite Kammer über den Kompromiss zur Einführung der Individualbesteuerung debattierte. Mit dem Stichentscheid des Ständeratspräsidenten Andrea Caroni (FDP) wurde hauchdünn die Einführung der Individualbesteuerung in der Schweiz beschlossen.
Dieser Erfolg ist auf die FDP-Frauen und deren Präsidentin, Susanne Vincenz-Stauffacher, zurückzuführen. Ihnen ist es gelungen, mit einer Volksinitiative den Prozess für die grundlegende Änderung des Steuersystems anzustossen und Druck auf das Parlament auszuüben. Herausgekommen ist ein einigermassen gutschweizerischer Kompromiss, der aber noch ziemlich fragil scheint. Aus mehreren Ecken regt sich Widerstand. Erwartungsgemäss zur Wehr setzen sich christliche und konservative Kreise. Sie sagen, dass sie mit dem Paradigmenwechsel das Institut der Ehe bedroht sehen. In Wahrheit dürfte es um einen Kulturkampf in Bezug auf moderne Familienrealitäten und Frauenbilder gehen. Oder anders gesagt: Gewisse Kreise sehen sich durch mehr finanzielle Selbstbestimmung von Eheleuten offenbar immer noch bedroht. Sie zementieren nach wie vor ein Weltbild, in dem Frauen für die Kinderbetreuung zuständig sind und Männer arbeiten gehen. Die Individualbesteuerung und vermutlich auch arbeitende Frauen passen da nicht ins Weltbild.
Die Abschaffung der sogenannten Heiratsstrafe ist tatsächlich ein überfälliger Paradigmenwechsel. Oft dauern Reformen in der Schweiz lange – besonders in der Gleichstellungs- und Familienpolitik. Schritt für Schritt findet aber auch hierzulande in gesellschaftspolitischen Anliegen ein Angleich an die Lebensrealitäten zahlreicher Ehepaare und Familien statt.
Von der Individualbesteuerung profitieren werden Eheleute, die beide grössere Arbeitspensen bestreiten. Heute setzt das Steuersystem wegen der Heiratsstrafe fragwürdige Anreize. Wer verheiratet ist, füllt nur eine Steuererklärung aus. Vor allem, wenn beide Partner gut verdienen und viel arbeiten, bezahlen sie deutlich mehr. Der sogenannte Heiratsstrafe-Effekt trifft dabei insbesondere Zweitverdienerinnen und Zweitverdiener, also meistens: die Frau. Je mehr die Frauen verdienen, desto stärker steigt die gemeinsame Steuerlast. Die daraus resultierende Botschaft ist so unmissverständlich wie simpel: Frau, bleib lieber zu Hause oder arbeite Teilzeit.
Dieser Anreiz ist gefährlich für uns Frauen. Denn die versteckte Bestrafung weiblicher Erwerbstätigkeit hat Konsequenzen. Für Frauen, für Familien – und für die Gesellschaft als Ganzes. Sie zementiert überholte Rollenbilder, bremst Karrieren und schafft neue Abhängigkeiten. Wer jahrzehntelang nur Teilzeit gearbeitet hat, weil sich ein grösseres Pensum steuerlich nicht lohnt, hat später weniger Rente und verfügt über weniger finanzielle Eigenständigkeit. Ganz nebenbei – und das vergisst man oft – finden sich Väter oft unhinterfragt und selbstverständlich in der sogenannten Versorgerrolle wieder, was ebenfalls Ungleichheiten und Abhängigkeiten zur Folge hat.
Dass das Parlament nun Ja zur Individualbesteuerung gesagt hat, ist ein wichtiger familienpolitischer Erfolg. Natürlich wird es dauern, bis die Reform umgesetzt ist. Neben dem regulären Referendum steht sogar ein mögliches Kantonsreferendum im Raum. Doch bevor wir wieder in die politische Debatte steigen, würde ich allen Kämpferinnen und Kämpfern für liberale Anliegen empfehlen, innezuhalten und diesen wichtigen gesellschaftspolitischen Erfolg zu feiern. Denn klar ist: Die Richtung stimmt. Die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung zwischen Frau und Mann, wie sie in unserer Verfassung steht, wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch steuerlich eingelöst werden.
An alle Kritiker, die behaupten, die Individualbesteuerung schade der Familie oder dem Institut der Ehe, möchte ich sagen: Die Individualbesteuerung stärkt Familien und Eheleute, indem sie ihnen Wahlfreiheit gibt. Ob Vollzeit, Teilzeit, Care-Arbeit oder Karriere: Was zählt, ist die Entscheidung des Ehepaares, nicht die Vorgaben des Fiskus. Nur so kann echte Gleichberechtigung entstehen. Und zwar nicht nur im Gesetz, sondern – wie es unsere Verfassung vorschreibt – auch im gelebten Alltag.