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«Mich um das Bürgerrecht der grossen Republik zu bewerben»

Erinnerungen aus Amerika von Emil Naef, erschienen im Zofinger Tagblatt vom Montag, 13. August 1883.

Emil Naef hat sich in Leavenworth niedergelassen und liest eines Morgens in der Zeitung, dass er die Möglichkeit hätte, sich in den USA einbürgern zu lassen.

«Mehr aber noch interessirte mich eine andere Notiz. Mitten zwischen einigen Geschäftsreklamen stand nämlich zu lesen, dass jeder Fremde, der wenigstens 6 Monate in der regulären Armee gedient habe, sich bei ehrenvoller Entlassung als Bürger der Vereinigten Staaten erklären lassen könne, auch wenn er nur ein halbes Jahr im Lande sei. Bekanntlich ist sonst ein Aufenthalt von 5 Jahren vorgeschrieben. Sofort stand es bei mir fest, mich ebenfalls um das Bürgerrecht der grossen Republik zu bewerben. Mit einem Advokaten und den nothwendigen zwei Zeugen begab ich mich zum Gerichtsgebäude. Dasselbe liegt mitten in der Stadt auf einer kleinen Anhöhe und ist sehr prunkvoll im antiken Styl gebaut. Schöne Terassen führen zu ihm herauf. Im Hofe spalteten eben die Gefangenen Holz. In Amerika sperrt man Keinen zum Faullenzen ein und wenn es auch nur für einen Tag wäre. Sofort muss er arbeiten, dann aber ist die Kost recht. Für solche, die nicht arbeiten wollen, hat man gute Mittel zur Dressur. Man stellt sie einfach in eine Wasserstande, wo stetsfort Wasser hineinläuft. Pumpt nun derjenige, der in der Stande steht, nicht in einem fort, so überläuft das Wasser und [er] ertrinkt. Es ist merkwürdig, wie durch dieses drastische Mittel Leute, die vorher vor lauter Faulheit die Arbeit kaum anrühren mochten, nun ganz zum Erstaunen flinke Arme bekommen. Ganz ähnliche Verhältnisse herrschen in den Zuchthäusern. Aber auch hier ist die Kost recht, an einzelnen Tagen sogar sehr gut. So wurden am sogenannten Thankgivingsday, unserem Bettag, wo auf dem Tische jedes Amerikaners ein gebratener Turkey, Welschhahn stehen muss, in’s Zuchthaus von Leavenworth ein ganzes Fuder Turkey geführt. So weit sind wir bei uns noch nicht.

In der oberen Etage, die wir nun betraten, ging es sehr lebhaft zu. Rechts im Zimmer sass der probate Richter, der die feierliche Bürgerrechtsaufnahme vollziehen sollte, vor der Hand aber noch keine Zeit hatte, da eine Civilparthei eben vor ihm plaidirte; links sass in seinem besonderen Zimmer der Polizeirichter und sprach sein vernichtendes Urtheil über eine Anzahl von Tramps, Vaganten und Schelmen aus. Unser Interesse concent[r]irte sich indessen auf den Saal im Hintergrunde, wo sich eben unter dem Präsidium des ehrenwerthen Friedensrichters das Geschwornengericht constituirte, um über eine Prügelei sein Schuldig oder Nichtschuldig abzugeben. Der Saal war von Zuhörern völlig angepfropft. Die Advokaten hatten bereits Posto gefasst [waren auf ihren Posten] und trugen ihre Aktenstücke so sehr als möglich zur Schau, kratzten sich gelegentlich auch die Nasen damit, um auf die beobachtenden Zuschauer einen starken Eindruck nicht zu verfehlen. Der ehrenwerthe Friedensrichter war ein auffallend kurzer Mann, und dabei so kugelrund, dass man nichts als Gesicht und Bauch zu sehen glaubte. Er watschelte auf zwei kleinen krummen Beinen herein, und nachdem er sich gravitätisch gegen die Advokaten und die Advokaten sich gegen ihn verbeugt hatten, streckte er die kleinen Beine unter den Tisch und stellte seinen Hut auf denselben; nun aber konnte man nichts mehr von ihm sehen, als zwei wunderlich kleine Äuglein und eine grosse etwas röthlich angehauchte Nase darunter.

Zur Serie Emil Naefs von 1883

Zofingen Die 17-teilige Artikelserie «Erinnerungen aus Amerika» von Emil Naef, aus der der hier abgedruckte Text stammt, ist vor genau 140 Jahren im Zofinger Tagblatt erschienen, vom 9. bis 31. August 1883. In den ersten drei Teilen zeichnet Naef ein Bild Amerikas, das aus heutiger Sicht rassistisch und verstörend wirkt, jedoch dem damaligen Zeitgeist entsprach.

Als die Serie erschien, lag die Abschaffung der Sklaverei 18 Jahre zurück. Naef schreibt im ersten Teil, dass in den Südstaaten danach «die öffentlichen Einnahmen gänzlich in die Taschen der schwarzen Beamten flossen. In Städten fehlte das Gas, die Schulen mussten eingestellt werden, weil kein Geld da war. Kurz, es herrschte die reinste Anarchie.» Aber: «Die Schuld dieser Zustände den Schwarzen ganz zuzuschreiben, wäre (…) ungerecht.» Sie seien «das missleitete Stimmvieh der von Norden her eingewanderten Stellenjäger». Und: «Zur grossartigen Corruption konnte dieses System erst durch die Unterstützung des General [Ulysses S.] Grants gelangen. Unter dem späteren Präsidenten ist Manches besser geworden, aber noch lange Jahre wird es gehen, bis im Süden geordnete Zustände herrschen werden.»

Die Abschaffung der Sklaverei stellte Naef, der sich später für das eidgenössische Fabrikgesetz einsetzte, nicht in Frage. Um sie zu beantworten, «genügt ein Blick auf den Inseratentheil der südstaatlichen Presse aus der Sklavenzeit vollkommen», schreibt er. Im ZT zitiert er dann mehrere dieser Inserate, um das Ausmass der Grausamkeit zu dokumentieren. Ein Beispiel: «Weggelaufen, mein Mann Fonntain. Beide Ohren sind ihm abgebissen, er wurde in die Beine geschossen und ist am Rücken mit Peitschenhieben gezeichnet», heisst es etwa. Naef schreibt dazu, die Inserate sprächen «mehr als Alles für die unmenschliche, barbarische Behandlung, welche den Negersklaven in den Südstaaten zu Theil wurde».

Im zweiten Teil schreibt Naef, dass es «gesellschaftlich freilich immer noch mit der Gleichheit happert». Sogar in den Nordstaaten komme es vor, dass Schwarze einfach einfach aus Lokalen hinausgeworfen würden, «weil die weisse Kundschaft sonst verloren ginge» – dies trotz Gesetzen, «nach welchen die Kutscher, Theaterdirektoren, Gastwirthe bei schweren Geldstrafen verhalten werden, die Schwarzen in ihren Etablissements auf gleichem Fuss wie die Weissen zu behandeln». Und: «Im Süden hat man sogar eigene Eisenbahnwagen, eine Art Viehwägen für die Schwarzen. Ein Pflanzer würde es als eine Schmach betrachten, mit einem Schwarzen im gleichen Waggon zu fahren.»

Der hier abgedruckte Teil ist der vierte aus Emil Naef Artikelserie. Er schildert darin seinen Entschluss, Bürger der Vereinigten Staaten zu werden. Das ZT druckt ihn ohne Anpassungen an die heutige Schreibweise. Ergänzungen sind mit eckigen Klammern bezeichnet. (pp/pmn)

Kaum hatte der ehrenwer­the Richter Platz genommen, als der Constabel mit gebieterischem Tone im Saale Schweigen gebot. Hierauf wurde Appel gemacht, und nach langem Geschrei ergab es sich, dass die verlangten 12 Mitglieder der Jury zugegen waren. Der Richter forderte sie nun die rechte Hand in die Höhe zu halten und verlas dann die Eidesformel, aber so schnell, dass es beinahe unmöglich war mehr zu verstehen als: ‹so help you god.›

Auf der Anklagebank sass ein junger Negerbursche. Zuerst wurden die Zeugen der Parteien verhört, dann erhob sich der Anwalt [des] Klägers mit einer fulminanten Rede. Als er mit seiner Rede fertig war, hörte ich einen Jurymann, der gerade vor mir sass, zu seinem Nebenmann sagen: ‹Der Mann hat recht›; als der Advokat des Beklagten geendigt hatte, sagte derselbe Mann: ‹Der Mann hat unrecht›, und als der Richter den Fall resümirte, rief dasselbe Mitgliede: ‹Ich weiss nicht, ob der Mann recht oder unrecht hat!› Dies ist leider zu oft die Situation der Jury, wenn sie ihren Richterspruch geben soll, und wie könnte es auch anders sein? Die Advokaten verdrehen jedes Wort, so dass die Köpfe der einfachen, schlichten Bürger ganz confus werden. Kein Mittel lassen sie unversucht, auf die Gemüther [der] Jury einzuwirken. Ein sehr beliebtes Kunststück ist, bei dem Prozesse betheiligte, weinende Kinder und Frauen zu produzieren; die letzteren verfehlen, besonders wenn sie hübsch sind, selten den gewünschten Eindruck zu machen.

Die Jury wurde nun in’s nächste Zimmer eingesperrt. Die Einigung war bald erzielt und so brachte sie in wenigen Minuten ihr Urtheil auf «Schuldig». Als man sie nach den Motiven dieser schnellen Einigung fragte, erklärte sie, der Angeklagte sei ein Schwarzer. Das hatte der intelligenten Jury genügt.»

(Fortsetzung folgt.)

Bearbeitung: Philipp Muntwiler

Glossar (in Reihenfolge der Erwähnung im Text)

Leavenworth Stadt im Bundesstaat Kansas, 1854 am Westufer des Flusses Missouri gegründet. Durch das gleichnamige Fort ist die Stadt vor allem für ihre Schlüsselposition als Versorgungsbasis für die Siedlungen im Wilden Westen bekannt. Sie ist auch Standort mehrerer bundesbehördlicher Gefängnisse.

Welschhahn Das Truthuhn (Meleagris gallopavo) ist eine in Nordamerika beheimatete Art der Truthühner. Es wird auch Wildtruthuhn oder Wildes Truthuhn genannt und ist die grösste Art der Hühnervögel. Bereits von indianischen Völkern wurde es domestiziert und ist somit die Stammform des Haustruthuhns, der Pute.

Tramps Eine US-amerikanische Sozialfigur auf der Suche nach Gelegenheitsjobs, die verwandt ist mit dem Hobo (Obdachloser, der mittels Eisenbahn durchs Land reiste). Der Duden definiert den Begriff als «Landstreicher, umherziehender Gelegenheitsarbeiter, besonders in Nordamerika». Als Tramp wurde im Englischen seit den 1660er-Jahren eine dauerhaft wandernde Person (Vagabund, Vagant) bezeichnet. (pmn/wikipedia)