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Als die Patientinnen und Patienten in Kutschen ins «Irrenhaus» gebracht wurden – und welche Probleme die Psychiatrie heute hat

Der Netzwerkanlass «Connect» der PDAG stand dieses Jahr ganz im Zeichen des 150-Jahr-Jubiläums. Den Besucherinnen und Besuchern wurden aber nicht nur Einblicke in die Geschichte, sondern auch in das aktuelle Wirken geboten.

«Hier ist man früher mit der Kutsche reingefahren und hat die Patientinnen und Patienten abgeladen, links die Damen, rechts die Herren», erklärte Kurt Aeberhard, Verwaltungsratspräsident der Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG). Die Besucherinnen und Besucher liessen dabei ihre Blicke durch die hohe Eingangshalle im Hauptgebäude schweifen.

Bereits dieser Einstieg zeigte auf, dass sich in der 150-jährigen Geschichte der Psychiatrie in Königsfelden – im «Irrenhaus», wie es in den Anfängen genannt wurde – viel verändert hat. Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati erklärte dann in seiner Rede, auch in das Regierungsgebäude sei man früher mit der Kutsche reingefahren. «Ob es da weitere Parallelen gibt, weiss ich nicht», sagte der Regierungsrat in seiner gewohnt spitzbübischen Weise.

Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati überbrachte die Grussworte des Regierungsrats.
Dominic Kobelt

Die heutige Psychiatrie ist personalintensiver

Aeberhard präsentierte weitere Fakten, die aufzeigten, wie sich die Institution verändert hat: Im vierten Betriebsjahr gab es 490 Betten, was nicht sehr weit von den heutigen 462 weg ist. «Frappierend ist aber, dass es damals 70 Angestellte gab, und heute sind es etwa 1500 – das zeigt, dass sich die Medizin, aber auch die Dienstleistungen nicht mehr vergleichen lassen», erklärte Aeberhard.

Der Netzwerkanlass «Connect» der PDAG stand in diesem Jahr auch im Zusammenhang mit dem 150-Jahr-Jubiläum, die geladenen Politikerinnen und Politiker, Behördenmitglieder und Vertreterinnen und Vertreter von Partnerorganisationen erfuhren nicht nur Spannendes zur Geschichte, sondern auch zur aktuellen Lage und zur Zukunft.

Eindrücklicher Einblick in den Berufsalltag

Vier Expertinnen und Experten erzählten von den Herausforderungen in ihrem Berufsalltag. So etwa Zentrumsleiter und Leitender Arzt Michel Dang, der über einen reellen Fall sprach. «Eine Patientin stellte sich 2019 aufgrund einer akuten Krise bei uns im psychiatrischen Notfall vor.» Ihr Mann hatte sich am Tag zuvor das Leben genommen. Weil sich dieser tragische Fall in der Vorweihnachtszeit abspielte, konnte kurzfristig kein Termin bei einem niedergelassenen Therapeuten organisiert werden. «Eine stationäre Behandlung war wegen der zehnjährigen Tochter auch keine Alternative», schilderte Dang.

So konnten der Patientin ambulante Überbrückungsgespräche angeboten werden. «Ein halbes Jahr später ist dann die Kriseninterventions-Ambulanz (KIA) gegründet worden», erzählte Dang. Innerhalb der letzten zwei Jahre ist die Abteilung gewachsen, sieben Ärzte und Psychologen arbeiten mittlerweile hier. «Die Wartezeit für ambulante Therapien beträgt meist mehrere Monate», erklärte er die Notwendigkeit der KIA. Eine Zahl machte dies eindrücklich klar: «Die Fallzahlen im psychiatrischen Notfall der KIA stiegen seit 2019 jährlich um 30 Prozent.»

Die Zeit ist oft ein wichtiger Faktor

Der Zentrumsleiter und stellvertretende Chefarzt Rafael Meyer zeigte ein ähnliches Problem auf. Er versetzte die Zuhörerinnen und Zuhörer in die Rolle eines behandelnden Arztes, der es mit einem suizidalen Patienten zu tun hat. «Sie müssen entscheiden, ob Sie ihn auf eigenen Wunsch nach Hause und in ein ambulantes Setting entlassen, oder per fürsorgerischer Unterbringung einer psychiatrischen Klinik zuweisen.»

Wenn der Fall nicht eindeutig ist, kann der Konsiliar-Psychiatrische Dienst weiterhelfen. Und was, wenn dieser aufgrund von anderen Notfällen oder dem langen Anfahrtsweg erst am nächsten Tag kommen kann? «Dank des E-Konsils der PDAG ist eine Beratung auch per Videotelefonie möglich», erklärte Meyer.

Therapie in den eigenen vier Wänden

Oberärztin Lisa Timpe erklärte dann, wie Teams Patientinnen und Patienten auch zu Hause besuchen würden, genannt «Home Treatment». Sie nannte beispielhaft den Fall einer 16-Jährigen, die bereits seit Jahren an einer Depression erkrankt ist und deren Eltern sie nicht von einer stationären Therapie überzeugen konnten. «Dank des Home Treatments konnten sie sich Schritt für Schritt ihren Alltag zurückerobern.»

Auch in der forensischen Psychiatrie spielt Zeit eine grosse Rolle, wie Georg Stamm, Chefarzt und Zentrumsleiter für Forensische Psychiatrie stationär, erklärte. Viele würden über lange Zeit betreut, stationär als auch ambulant. Stamm brachte den prototypischen Fall eines Mannes mit paranoider Schizophrenie: «Leider setzen die Patienten häufig die Medikamente nach einer stationären Behandlung ab, nehmen eventuell auch Drogen.»

Auch in der Forensik sind Behandlungsplätze rar

Am Tag X passiere es dann, schildert Stamm: «Der Mann hört Stimmen, möchte sich verteidigen. Er verletzt im Zuge einer akuten psychotischen Symptomatik ein Familienmitglied oder auch einen wildfremden Menschen.» Daraufhin kommt er in Haft und wird schliesslich zu einer Massnahme verurteilt.

«Leider müssen solche Patienten lange warten, bis ein Platz frei wird. Hier hat die PDAG mit dem Erweiterungsbau mit 26 zusätzlichen Behandlungsplätzen einen wichtigen Beitrag geleistet», erklärt Stamm.

Die kurzen Referate gaben Einblick in das heutige Wirken der PDAG. CEO Thomas Zweifel nahm die Besucherinnen und Besuchern dann mit neun Bildern des Areals mit auf eine Zeitreise, und zeigte die baulichen Veränderungen auf.

CEO a.i. Thomas Zweifel führte durch die Baugeschichte von Königsfelden.
Zvg/Michael Orlik