Sie sind hier: Home > Bildung > Bildungswunder Schweiz: Weshalb Jugendliche trotz frappanter Leseschwäche eine Berufslehre schaffen

Bildungswunder Schweiz: Weshalb Jugendliche trotz frappanter Leseschwäche eine Berufslehre schaffen

Lehrbetriebe und die Berufsschulen bügeln schulische Defizite aus, die Jugendlichen den Start in die Arbeitswelt erschweren. Gemäss der Pisa-Studie kann nämlich ein Viertel der Jugendlichen in der Schweiz kaum lesen, ein Fünftel bekundet grösste Mühe mit Rechnen.

Ein Viertel der Jugendlichen in der Schweiz liest ausgesprochen schlecht und versteht Texte nicht richtig. Bei der Mathematik verfehlen 19 Prozent die Mindestanforderungen. Einfache textliche und rechnerische Aufgabestellungen bereiten den Betroffenen im Alltag grösste Mühe. Das zeigt die neue Pisa-Studie. Bereits bei der letzten Pisa-Studie kamen ähnliche Ergebnisse zum Vorschein. Das Problem ist bekannt, doch offenbar ist es noch nicht gelungen, Gegensteuer zu geben.

Die Autoren des Schweiz-Berichts hegen deshalb Zweifel, ob in absehbarer Zeit 95 Prozent der Jugendlichen einen Abschluss auf der Sekundarstufe II (Lehre oder Matura) schaffen – zumal das Niveau tendenziell sogar sinkt. Die 95 Prozent sind ein Zielwert, den Bund, Kantone und Sozialpartner 2006 vereinbart haben. Aktuell liegt er bei 91,4 Prozent.

Man kann das Glas auch jedoch auch halb voll sehen. Trotz weitverbreiteter Lese- und Mathematikdefizite stehen am Schluss weniger als 10 Prozent ohne Berufsabschluss da. Die Jugendarbeitslosigkeit ist im internationalen Vergleich tief. Wie ist dieses Wunder möglich?

Leseschwache werden Geschäftsführer

Alain Pichard, Bildungspolitiker (GLP) aus Biel ist wohl der bekannteste Oberstufenlehrer der Schweiz. Mit 68 Jahren springt er immer noch als Aushilfskraft ein. Pichard lobt das duale Bildungssystem der Schweiz und windet den Ausbildungsbetrieben ein Kränzchen: «Vielen Lehrmeistern gelingt es, aus unmotivierten Schulabgängern selbstbewusste Lehrlinge zu formen, die sich plötzlich schulisch anstrengen und Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit verinnerlichen.»

Pichard hat selber beobachtet, wie sich nervtötende Schüler mit Lese- und Rechenschwäche zu zielstrebigen Lehrlingen mauserten, die später sogar selber ein Computergeschäft eröffneten oder eine Carosseriespenglerei führten.

Wohl der bekannteste Oberstufenlehrer der Schweiz: Alain Pichard.
Bild: Andrea Stalder

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Studie der Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Sie fand heraus, dass bei Schweizer Berufsmeisterschaften ein Drittel der Medaillengewinner mittelmässige Schülerinnen und Schüler waren. Eine zentrale Rolle als Motivatoren spielten die Familie, die Ausbildungsbetriebe und die Berufsschullehrpersonen.

Christof Spöring ist Leiter der Dienststelle Berufs- und Weiterbildung im Kanton Luzern. Er sagt: «Motivation und Interesse können andere Schwächen überstrahlen und dafür sorgen, dass frühere Lücken geschlossen werden.» Die Berufsbildung leiste dabei eine enorm wichtige Aufgabe für die Gesellschaft. Spöring sagt, leseschwache Lernende würden eher handwerkliche Berufe wählen oder Ausbildungsplätze suchen, die nach zweijähriger beruflicher Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest abgeschlossen werden. Über die Anforderungsprofile der einzelnen Berufe können sich Jugendliche selber ins Bild setzen.

Auch die Berufsschulen leisten mit Stützkursen, individueller Begleitung und anderen flankierenden Massnahmen einen wesentlichen Beitrag dazu, dass lernschwache Schülerinnen und Schüler ein Abschlussdiplom schaffen.

Dass solide Deutsch- und Mathematikkenntnisse zentral sind, betont Dieter Kläy vom Schweizerischen Gewerbeverband. «Wir beobachten, dass es Betrieben und Berufsschulen gut gelingt, bestehende Defizite zu lindern», sagt er. Die Ergebnisse der Pisa-Studie stellen ihn grundsätzlich zufrieden. Kläy wünscht sich aber, dass an den Schulen Grundfertigkeiten wie Lesen und Rechnen besser geübt werden.

Auch Alain Pichard fordert, dass die Volksschule vermehrt den Fokus auf Grundkompetenzen legt. «Lesen, Schreiben und Rechnen ist nicht alles, aber ohne Lesen Schreiben und Rechnen ist alles nichts», sagt er. Der Lehrplan sei überfrachtet und enthalte Ziele, die ausserhalb jeglicher Reichweite von Unterricht lägen. Pichard fordert, den Fremdsprachenunterricht an der Primarschule zu streichen – und regt generell eine Verzichtsplanung an. «Schüler sollten das Klima retten, Experten sein für Gewichtsreduktion und bei der Aids-Prävention; alles zusammen bedeutet eine heillose Überforderung. »

Für den Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid (SVP) werfen die Pisa-Ergebnisse derweil die Frage auf: Wie kann man den Schulunterricht optimieren, damit der Anteil der Leistungsschwachen endlich sinkt? Schmid, der selber oft auf Schulbesuch ist, sieht mehrere Hebel: Zum einen brauche es mehr Zeit zum Üben von Basisfertigkeiten wie Rechnen und Lesen; der Kanton Nidwalden hat dafür bereits mehr Lektionen reserviert. «Es ist wie beim Sport oder bei der Musik»: Übung macht den Meister, sagt Schmid. Er fragt sich auch, ob zu sehr auf die Methode des sogenannten selbstorganisierten Lernens oder des lautgetreuen Schreibens gesetzt werde. «Gerade leistungsschwache Kinder benötigen enge Begleitung.»

Als «sehr erfreulich» bewertet Silvia Steiner (Mitte) die Pisa-Ergebnisse. Die Präsidenten der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) und Zürcher Bildungsdirektorin betont, die Schweiz liege in allen Kompetenzbereichen über dem Schnitt der OECD-Länder. Man werde jetzt aber die Studie analysieren und schauen, in welchen Bereichen Verbesserungen möglich seien. «Ein besonderes Anliegen ist die individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen. Wir möchten den Anteil derjenigen senken, welche die Mindestanforderungen nicht erfüllen», sagt Steiner.

Lehrerinnenverband fordert Qualitätsoffensive

Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), teilt dieses Anliegen. «Wir dürfen es nicht einfach hinnehmen, dass ein Viertel der Jugendlichen grosse Mühe beim Lesen bekundet und kaum Texte versteht», sagt sie. Das sei besorgniserregend.

Die Schule müsse alles daran setzen, dass möglichst viele junge Menschen eine genügende Lesekompetenz am Ende der obligatorischen Schulzeit hätten. Rösler begrüsst es, dass immer mehr Kantone auf frühe Sprachförderung setzen. Sie stellt gleichzeitig fest, dass die Kinder tendenziell weniger Bücher lesen als früher und stattdessen vermehrt in sozialen Medien unterwegs sind; auf Tiktok und Co. ist gepflegte Sprache bekanntlich keine Teilnahmebedingung. Rösler appelliert auch an die Eltern, Lesemöglichkeiten zu schaffen, Im Haushalt Zeitungen und Bücher bereitzustellen. «Die Erwachsenen haben eine Vorbildfunktion», sagt Rösler.

Dagmar Rösler ist Präsidentin des Verbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer.
Bild: zvg

Der Lehrerverband hat vor kurzem einen Aktionsplan für die Qualitätsoffensive lanciert. Die Kernforderung lautet: Die Kantone stellen genügend Geld zur Verfügung, damit auf allen Stufen eine hochwertige Bildung mit genügend qualifizierten Lehrerinnen und Lehrern garantiert werden kann. Der LCH nimmt die Pisa-Studie zum Anlass, seine Forderung zu bekräftigen.

Die Erhebung bestätigte nämlich, dass Erfolg von Schule und Unterricht in hohem Mass von der Qualität der Lehrpersonen abhänge. Grundsätzlich taxiert der LCH die Pisa-Ergebnisse als positiv und sieht sie als «Bestätigung der engagierten Arbeit der Lehrpersonen», wie er in einer Medienmitteilung schreibt.