
Sollen geistig behinderte und entmündigte Personen abstimmen dürfen? Der Nationalrat gibt grünes Licht
Lucrezia schiebt den Rollator durch die Gänge des Behindertenheims, schnappt sich eine Zeitung, schildert ihre Situation: Sie ist politisch interessiert, schaut die Tagesschau, hält Reden an Kundgebungen. Doch die 76-jährige Frau darf nicht wählen und abstimmen. Sie steht unter umfassender Beistandschaft, ist entmündigt. «Alle Leute sollten wählen dürfen. Wir leben in einer Demokratie», sagt sie in einemKurzvideo, das Pro Infirmis, die grösste Behindertenorganisation der Schweiz, aufgeschaltet hat.
In 13 EU-Staaten, darunter alle Nachbarländer der Schweiz, dürfen auch urteilsunfähige Menschen wählen. In der Schweiz hiess die Genfer Stimmbevölkerung im November 2020 (75 Prozent Ja-Anteil) eine solche Regelung gut, vor einem Jahr zog Appenzell Innerrhoden nach. In diversen anderen Kantonen sind entsprechende Bemühungen im Gang.
Die Bundesverfassung besagt: Personen, die wegen «Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind», sind vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Nach Schätzungen des Bundes sind davon rund 16’000 Personen betroffen. Es handelt sich zum Beispiel um Menschen mit einer geistigen Behinderung wie Trisomie 21, aber auch Personen mit psychosozialen Problemen. Sie können zum Beispiel nicht mit Geld umgehen und stehen unter umfassender Beistandschaft.
Motion findet klare Mehrheit
Jetzt will der Nationalrat diese Menschen aus dem politischen Abseits ins demokratische Spielfeld holen. Am Montag hat die grosse Kammer eine entsprechende Motion ihrer staatspolitischen Kommission mit 109 zu 68 Stimmen bei 16 Enthaltungen gutgeheissen. Einzig die SVP sprach sich geschlossen gegen den Vorstoss aus. Bei der FDP war das Bild uneinheitlich.
Auch in anderen Bereichen wie im Strafrecht oder im Vertragsrecht werde Urteilsfähigkeit vorausgesetzt, sagte Benjamin Fischer (SVP, ZH). Er warnte, dass beim passiven Wahlrecht theoretisch absurde Konstellationen möglich wären: Dass zum Beispiel eine Person, die nicht über ihre eigenen Finanzen bestimmen darf, in eine Gemeindexekutive gewählt und dann Finanzvorsteher würde.
Der Zürcher SVP-Nationalrat schlug vor, genauer zu prüfen, ob eine umfassende Beistandschaft wirklich bei allen Personen, die davon betroffen sind, angebracht ist. In der Tat bestehen grosse kantonale Unterschiede. Der Kanton Waadt zählt nur etwa halb so viele Einwohnerinnen und Einwohner wie Zürich, ordnet aber fast zehnmal mehr umfassende Beistandschaften an.
Bundesrat begrüsst den Vorstoss
Es bestehe grundsätzlich zwar ein legitimes öffentliches Interesse daran, Personen vom Stimmrecht auszuschliessen, wenn sie die Bedeutung und Wirkung politischer Entscheide nicht verstehen und äussern könnten, sagte Justizminister Beat Jans in der Debatte. «Der Ausschluss von Stimm- und Wahlrecht in seiner jetzigen Form ist zu absolut und führt zu Spannungen mit der Rechtsgleichheit.»
Der Bundesrat hatte bereits vor eineinhalb Jahren in einemBerichtfestgehalten, die aktuelle Regelung entspreche nicht mehr vollumfänglich den völkerrechtlichen Standards. So verlangt etwa die Behindertenrechtskonvention – die Schweiz trat 2014 bei –, dass politische Rechte von Menschen mit einer Behinderung garantiert sind.
Das Geschäft geht nun in den Ständerat. Folgt die kleine Kammer dem Nationalrat, muss der Bundesrat eine Verfassungsänderung ausarbeiten.
Die wäre im Sinn von Pro Infirmis. Die Behindertenorganisation kritisiert, der Ausschluss von der politischen Teilhabe gründe auf einem unzulässigen Mechanismus, dass eine umfassende Beistandschaft automatisch zum Entzug des Stimm- und Wahlrechts führe. «Wenn Menschen beispielsweise ihre Finanzen nicht selbst verwalten können, bedeutet das nicht, dass sie sich politisch keine Meinung bilden können», sagt Philipp Schüepp, Leiter Politik bei Pro Infirmis.
Den oft vorgebrachten Einwand, dass Familienangehörige von urteilsunfähigen Personen eine zusätzliche Stimme erhalten, lässt er nicht gelten: «Diese Menschen haben ihre eigene Stimme. Dass man sich mit Familien und Freunden über politische Themen austauscht, ist logisch und kein Grund, Menschen mit Behinderungen von der Urne auszuschliessen.»