
Liebe, Tod, Lust, Sex und Verderben: Lady Gaga macht wieder auf «Poker Face» – und kehrt zu ihren Wurzeln zurück
Das Wesentliche macht Lady Gaga auf ihrem siebten Studioalbum richtig: Sie unterhält. Langweilig wird es einem beim Hören der vierzehn Songs auf «Mayhem» (zu Deutsch: «Chaos») nun wirklich nicht. Sie fährt, gemeinsam mit ihren Hauptproduzenten Andrew Watt und Circut, ein solch mächtiges Arsenal an Instrumente, Ideen, Stilen und disruptiven musikalischen Drehungen und Wendungen auf, dass man sich fragt, ob sie dafür ein Sondervermögen hat bilden müssen.
Musikalisch tendiert «Mayhem» zur Überbordung, zur Überwältigung – mitunter auch zur Überforderung. Kohärent ist das alles nicht, aber es ist durchaus ein brachial grosser Spass, sich dieser Platte hinzugeben.
Nehmen wir «Killah», einen von nur zwei Songs mit Gast, dem französischen DJ Gesaffelstein. Fängt an wie ein handelsüblicher Funk-Song, der sich bei Daft Punk und «Kiss» von Prince bedient, plötzlich aber dreht die ganze Nummer auf lustige Weise ab in Richtung Techno und Wahnsinnslärm. Oder «Zombieboy», gleich danach. Die Referenz lautet Disco, man wartet die ganze Zeit auf Nile Rodgers und seinen Bass-Orgasmus, stattdessen bekommt man ein heftiges E-Gitarrensolo, auch nicht schlecht.

Evan Agostini / AP
Oder «The Beast», kurz vor Ende. Mehr Drama geht kaum. Wer in den 80er-Jahren schon dabei war (oder später auf den Geschmack gekommen ist, Lady Gaga wird Ende des Monats 39), meint sich erinnert zu fühlen an Michael Jacksons «Dirty Diana», «Time After Time» von Cnydi Lauper sowie das Gesamtwerk einer (warum eigentlich?) in Vergessenheit geratenen Taylor Dayne. Vorhersehbar oder leicht auszurechnen ist «Mayhem» also ganz sicher nicht.
Die künstlerische Ursuppe brodelt
Lady Gaga, geboren als Stefani Joanne Angelina Germanotta in New York, sagt über ihr Album, sie habe sich nach mannigfaltigen Ausflügen in Richtung Folk oder Jazz wieder mal einen Topf ihrer künstlerischen Ursuppe auf den Herd stellen wollen.
Heisst: Harte, knackige Beats, Synthesizer bis zum Abwinken, Industrial-Elemente, Konzentration auf ihre wirklich kräftige, dankenswerterweise nicht mal in die Nähe der nervigen Verzerrungssoftware Autotune gelassenen Stimme und inhaltlich das Spielchen mit den Identitäten, mit Gut und Böse, mit Himmel und Hölle, Liebe, Tod, Lust, Sex und Verderben.
Wirklich düster aber klingt «Mayhem» nun wirklich nicht. Abgründig auch nicht. Sondern sautanzbar, vergnüglich, mit einem immer noch feinen Gespür fürs Melodische, wie im sehr hübschen «Garden Of Eden». Und mit «Abracadabra» überzeugt sie mit einer Hitsingle, die tatsächlich vehement an Frühtriumphe wie «Poker Face» und «Bad Romance» erinnert, und in deren Video Lady Gaga Ober- und Unterwelten in bester Madonna-Tradition zelebriert.
Damals gegen Ende der Nullerjahre wurde Lady Gaga zum aufregendsten und polarisierendsten Popstar der Welt.
Das ist fünfzehn Jahre her. Heute schockt Lady Gaga niemanden mehr. Assoziativer Exkurs: In Florenz gibt es ein hippes Hotel, das sich von Dantes «Inferno» hat dazu verleiten lassen, Zimmer in den Kategorien «Himmel» und «Hölle» anzubieten. Auffälligster Unterschied: In den «Himmel»-Zimmern liegt auf dem Bett ein Stofftier-Schäfchen, in der «Hölle» wartet eine Stofftier-Ratte. Niedlich sind sie beide.
Die neue Wirkung und innerliche Zerrissenheit
Vorbei sind jedenfalls die kontroversen, bildgewaltigen Zeiten ihrer Fleischkleidwerdung, als sie mit zwanzig Kilo Rind am Leib 2010 bei den MTV Video Music Awards aufkreuzte. Auch ihre Themen wie ihre emotionale Nähe zur LGBTQ-Gemeinde oder ihre Unterstützung von trans Menschen sind heute tiefer im Mainstream verankert. Dass die Rechte dieser und anderer Minderheiten gerade von der US-Regierung ins Kreuzfeuer genommen werden, verleiht Lady Gagas Wirken zugleich eine neue Wirkung und Wichtigkeit.
Ihrer ausserweltlichen Anmutung wurde Gaga also mit den Jahren verlustig, ihres Schockpotentials auch, Gaga-Pop ist heute konventioneller denn je. Tatsächlich dokumentiert auch «Mayhem» bei aller Zurschaustellung (angefangen beim Albumcover) einer innerlichen Zerrissenheit, dass Stefani Germanotta im bürgerlichen Idyll vielleicht noch nicht ganz angekommen, aber mindestens schon mal angedockt hat.