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Historikerin Christina Späti: «Antisemitismus wird als Vorwurf genutzt und politisch instrumentalisiert.»

Der Nahostkonflikt löst in der Schweiz hitzige Debatten aus. Es wird von rechtem, linkem und importiertem Antisemitismus gesprochen. Historikerin Christina Späti ordnet die Judenfeindlichkeit in verschiedenen Milieus ein und erklärt, welchen Begriff sie scheinheillig findet.

Seit dem 7. Oktober diskutieren wir in der Schweiz so intensiv über Antisemitismus wie seit Jahren nicht. Wie antisemitisch ist die Schweiz?

Christina Späti: Umfragen des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass etwa ein Fünftel bis ein Viertel der Befragten antisemitischen Aussagen zustimmen. Dazu kommt eine Dunkelziffer. Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt der Antisemitismus als Tabu und ist verpönt. Vor 1945 war er eine geschlossene Weltanschauung. Heute ist dies anders. Je nach Milieu werden unterschiedliche Vorurteile geteilt. Aufgrund der sozialen Erwünschtheit antworten bei der Umfrage aber vermutlich nicht alle Befragten ehrlich.

Heute wird von rechtem, linkem und importiertem Antisemitismus gesprochen.

Ja, Antisemitismus wird auch als Vorwurf genutzt und politisch instrumentalisiert. Nach 1945 will niemand – ausser einige Rechtsextreme – als judenfeindlich gelten. Deshalb gibt es Codewörter, die für Antisemitismus stehen, aber nicht von allen erkannt werden. Etwa der Name Rothschild, der für eine vermeintlich jüdische Allmacht im globalen Finanzwesen steht. Zahlreiche Verschwörungstheorien ranken sich auch um den US-amerikanischen Investor und Philanthropen George Soros. Menschen wie er oder die Bankiersfamilie Rothschild stehen in diesen Mythen stellvertretend für eine angebliche jüdische Weltverschwörung.

Was hat sich diesbezüglich seit dem 7. Oktober verändert?

Der Antisemitismus ist wieder an die Oberfläche getreten. Nach 1945 braucht es einen Auslöser wie etwa der Nahostkrieg, damit Menschen ihre antisemitischen Einstellungen äussern. Der Grundbestand an antisemitischem Denken ist seit dem 7. Oktober vermutlich gleich geblieben. Nur ist er jetzt sicht- und hörbar.

In welchem Milieu ist Antisemitismus am stärksten vertreten?

Antisemitismus kommt überall in der Gesellschaft vor. Bei politisch rechtsstehenden Personen ist die Zustimmung für antisemitische Stereotype und Vorurteile aber am grössten. Das zeigen die Umfragen und ist auch historisch begründet. Antisemitismus war vor 1945 häufiger im konservativen Milieu zu finden als beispielsweise bei den Sozialdemokraten, obwohl es ihn dort auch gab. Einige Ausprägungen finden mehr im rechten, andere mehr im linken Milieu Zustimmung.

Welche Stereotypen werden vermehrt von rechts, welche von links bedient?

Typisch rechts sind die traditionellen Vorurteile zu finden, die sich mit wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Fragen beschäftigen. Beispielsweise, dass Juden zu viel Einfluss in Politik oder Wirtschaft hätten. Bei den Linken ist eher der sogenannte «Post Holocaust Antisemitismus» zu finden. Dieser trivialisiert den Holocaust – etwa indem Israelis mit den Nazis gleichgesetzt werden. Verschwörungstheorien geistern hingegen durch alle politischen Spektren hindurch.

Und der importierte Antisemitismus?

Diesen Begriff verwende ich nicht, der ist historisch falsch. Antisemitismus stammt aus Europa. Jene Judenfeindlichkeit und jener Judenhass, den wir heutzutage weltweit finden, wurde in Europa generiert. Hier ist der Antisemitismus erstarkt und führte zum Höhepunkt des Nationalsozialismus. Als nach 1945 die Tabuisierung eintrat, begann er sich fortan in anderen Ländern auszubreiten. Insofern ist es scheinheilig, wenn man vom importierten Antisemitismus spricht. Die Diskussion, ob es in migrantischen Kreisen einen stärkeren Antisemitismus als in der Mehrheitsgesellschaft gibt, will ich damit aber nicht unterbinden.

Gibt es mehr Antisemitismus unter Migrantinnen und Migranten?

Für die Schweiz ist dies schlecht erforscht, in Deutschland weiss man etwas mehr. Dort zeigt sich, dass die Herkunftsländer der Muslime entscheidend sind, wie verbreitet antisemitische Einstellungen sind. In der Schweiz stammen viele Muslime ursprünglich aus dem Balkan. Diese Region ist im Gegensatz zu arabischen Ländern kaum vom Nahostkonflikt betroffen und hat entsprechend weniger antisemitische Narrative. Mein Eindruck ist, dass bei Musliminnen und Muslimen in der Schweiz Antisemitismus weniger ein Problem ist als etwa in Deutschland oder anderen europäischen Ländern.

Der Antisemitismus stammt aus Europa. Was war ursprünglich seine Funktion?

Der Antisemitismus entstand mit dem Aufkommen des Christentums. Dieses stammt aus dem Judentum und wollte sich davon abgrenzen. Am Anfang war es ein innerreligiöser Konflikt, der die ersten Stereotype hervorbrachte. Im Mittelalter kamen die ersten ökonomischen Vorurteile und die ersten Verschwörungstheorien hinzu. So wurden Juden etwa für damals unerklärliche Krankheitsepidemien wie die Pest verantwortlich gemacht. Diese Einstellungen entwickelten sich im christlichen Europa weiter.

In Europa wurde auch die Aufklärung begründet, welche die Gleichheit aller Menschen propagierte. Hat das zu einer Veränderung geführt?

Ja, im ersten Moment brachte die Aufklärung und damit verbunden die jüdische Emanzipation eine Verbesserung für die Jüdinnen und Juden in den europäischen Gesellschaften. In der Schweiz erhielten sie beispielsweise das Niederlassungsrecht. Fortan durften sie überall leben und nicht mehr bloss in zwei Dörfern im Kanton Aargau. Diese Liberalisierung führte allerdings zu einer Gegenreaktion, wodurch der moderne Antisemitismus entstand.

Was verstehen Sie unter modernem Antisemitismus?

Das ist jener Antisemitismus, der statt auf religiösen vielmehr auf politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Vorurteilen basiert. Etwa, dass Juden die Politik lenken würden oder einen entscheidenden Einfluss in der Wirtschaft oder in der Presse hätten. Kurz: Dass sie die Welt regieren. Diese Verschwörungstheorien wurden Ende des 19. Jahrhunderts virulent und halten sich bis heute.

Studien zeigen, dass vor allem ältere, konservative Männer antisemitische Haltungen teilen. Was versprechen Sie sich von der toleranteren, jüngeren Generation?

Ich bin nicht allzu optimistisch. Antisemitische Vorurteile geistern – gerade auf den sozialen Medien – herum und gehören zum kollektiven Wissensbestand der Gesellschaft. Aufgrund einer mangelnden Debatte darüber erkennen sie jüngere Menschen oft nicht mehr.

Was bräuchte es?

Es fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Meistens wird dieser nur im Zusammenhang mit dem Holocaust thematisiert. Das bestärkt den Eindruck, dass er ein Phänomen der Geschichte ist. Es braucht aber Diskussionen darüber, dass Antisemitismus in der Gegenwart und in der Mitte der Gesellschaft vorkommt. Aktuell wird zwar viel über Antisemitismus diskutiert, aber er wird genutzt, um politische Gegner zu diskreditieren. Dies ist alles andere als zielführend.