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Auch ohne Rahmenvertrag: Die Schweizer Medizintechnik-Branche boomt

Ohne Rahmenabkommen mit der EU werde die wichtige Schweizer Medtech-Branche schrumpfen, hiess es. Nun laufen die Geschäfte so gut, dass neue Stellen entstehen. Die SVP sieht sich bestätigt. 

Die Voraussagen waren düster: Ohne EU-Rahmenvertrag verliere die Medizintechnik als erste Branche den direkten Marktzugang in die Länder der Europäischen Union. Das werde zu Umsatzeinbussen führen und gefährde viele Arbeitsplätze in der Schweiz – hiess es am Ende des vergangenen Jahrzehnts.

Die Medizintechnik ist ein wichtiger Wirtschaftszweig. Rund 1400 Unternehmen beschäftigen 63000 Personen und exportieren Waren in einem Wert von 11 Milliarden Franken pro Jahr. Geräte für Spitäler, Prothesen, Laborartikel, Implantate – die Produkte der Schweizer Medtech-Firmen sind gefragt.

Was ist geschehen, seit die Europäische Union diese Firmen wie Unternehmen wie aus Drittstaaten behandelt? Sind sie zurückgeworfen worden?

Die Unternehmen brauchen nun einen Ableger in der EU, der als Bevollmächtigter die Produkthaftung trägt. Das klappt reibungslos. «Es läuft überraschend gut in der Branche», sagt Daniel Delfosse, der beim Branchenverband Swiss Medtech für Regulation und Innovation zuständig ist. Die erforderliche Registrierung einer Niederlassung der Unternehmen in der EU verursache zwar Mehrkosten, aber sie seien gering verglichen mit dem höheren Aufwand für Rohmaterialien, Transport und Energie.

Die Grünliberalen sind nicht beeindruckt

Auch beim Import konnten drohende Einschränkungen dank einer Übereinkunft der Branche mit dem Bundesamt für Gesundheit und der Aufsichtsbehörde Swissmedic weitgehend eliminiert werden. «Nur bei zehn Prozent der importierten Produkte gibt es ein Problem. Da müssen nun rasch Ersatzprodukte gefunden werden», meint Delfosse.

Der Boom führt dazu, dass die Zahl der Stellen in der Medtech-Branche weiter wächst. Delfosse erklärt, dass dies mit höheren regulatorischen Anforderungen zu tun habe – aber nicht nur. «Es werden auch zusätzliche Stellen geschaffen, weil die Bestellungseingänge hoch sind».

Die SVP, die das Rahmenabkommen von Anfang an ablehnte, sieht sich jetzt bestätigt. Fraktionspräsident Thomas Aeschi sagt: «Wir sind nicht bereit, für einen leicht vereinfachten Zugang gewisser Branchen zum europäischen Markt die Souveränität über die eigene Gesetzgebung aus der Hand zu geben.»

Und was sagen die Grünliberalen, die den Bundesrat zur Unterzeichnung des Rahmenvertrags aufforderten? Parteipräsident Jürg Grossen weist darauf hin, dass die Konjunktur gut sei. Davon profitiere auch die Medizintechnik. «Mit einer behelfsmässigen Anpassung haben die Unternehmen das Problem aber nur vertagt, nicht dauerhaft gelöst», meint Grossen.

Ohne Rahmenabkommen gebe es «keine schockartigen Prozesse», sondern eine «schleichende Erosion der Wettbewerbsbedingungen.» Längerfristig helfe dagegen nur ein neues Abkommen mit der EU.

Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter erklärt, wohl treffe es zu, dass sich die Medtech-Firmen gut auf die neue Lage eingestellt hätten. Dabei müsse man aber berücksichtigen: Die Schweizer Unternehmen schüfen nun zunehmend Stellen in der Europäischen Union. «Die Schweiz verliert. Wir verlieren an Innovation.»

Auf diesen Punkt angesprochen, sagt Daniel Delfosse vom Verband Swiss Medtech, dass die Branche sowohl in der Schweiz als auch in den Ländern der EU neue Stellen schaffe.

Neue Zertifizierung bereitet der Branche Sorgen

Die Branche hat erfolgreich reagiert auf die Turbulenzen zwischen Bern und Brüssel – aber es droht ihr neues Ungemach. Delfosse erklärt, dass die EU-Kommission bis im Mai 2024 die Neuzertifizierung aller Produkte durchsetzen wolle

Das werde enorm schwierig, ja sogar unmöglich, weil das System in Europa dazu nicht bereit sei. «Betroffen sind nicht nur die Schweizer Firmen, sondern alle Unternehmen weltweit, die in der Europäischen Union tätig sind. Deshalb ist der Verband der Meinung, dass die Schweiz eine Anerkennung der US-amerikanischen Zertifizierung ernsthaft prüfen sollte.»

In diesem Zusammenhang ist es kürzlich zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem Bundesrat und der Medtech-Branche gekommen. Die Regierung hielt Ende Juni fest, dass «die Versorgung in der Schweiz mit sicheren und leistungsfähigen Medizinprodukten mittelfristig gesichert ist» und es «keinen dringenden Handlungsbedarf gebe, das geltende Recht anzupassen.»

Swiss Medtech teilt diese Einschätzung in einem Positionspapier nicht – dies vor dem Hintergrund «der europaweiten Probleme bei der Umsetzung der Medizinprodukte-Regulierung» sowie «der ungeklärten institutionellen Fragen der Schweiz und der Europäischen Union.» Das klingt nun doch danach, dass sich die Branche einen neuen Vertrag mit der EU wünscht.