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Schweizer Tierschutz: Präsidentin abgesetzt, Nachfolger auf dünnem Eis, Zukunft ungewiss

Die Delegiertenversammlung des Schweizer Tierschutzes (STS) vom Samstag verlief chaotisch und rechtswidrig. Es bleiben tiefe Gräben. Jetzt spricht der neue Präsident Piero Mazzoleni.

Nach fast acht Stunden emotionaler Debatten verliessen die meisten Delegierten am Samstag nach 21 Uhr fluchtartig das Oltner Kongresshotel Arte. Drei Wirtschaftsanwälte der Kanzlei Barandun waren schon zwei Stunden zuvor mit ihren Limousinen aus der Tiefgarage gebraust. Ihr Mandat war beendet. Ihre Auftraggeberin, Präsidentin Nicole Ruch, war nach fünfstündigen Verhandlungen abgewählt worden. Für die Juristen hatte sich der Richtungskampf dennoch gelohnt: Allein für ihre Anwesenheit am Samstag haben sie gemäss Kostenvoranschlag gegen 10’000 Franken kassiert – ohne Vorbereitung.

Ansonsten bleibt ein Scherbenhaufen zurück, intern wie extern. Den soll jetzt Piero Mazzoleni (72) aufräumen. Doch der Tessiner Anwalt stiess gleich nach seiner Wahl zum Übergangspräsidenten an Grenzen. Er vergass im Tumult die Abstimmungen über zwei wichtige Anträge: für seine Ablösung als Übergangspräsident an einer ausserordentlichen DV von Ende August 2024; und für die Einsetzung einer Findungskommission, die einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin nach professionellen Kriterien aussuchen sollte.

Erst Mitte Januar hatte das Basler Zivilgericht entschieden, dass diese beiden Anträge der DV zwingend unterbreitet werden müssen – unter Androhung einer Busse von 10’000 Franken.

Mazzoleni erklärte im Gespräch mit CH Media, er habe die Anträge «nicht traktandiert, weil ich gespürt habe, dass diese erneut lange Diskussionen zu später Stunde verursachen würden». Er wolle die beiden Themen «im neuen Vorstand entscheiden»: «Wir müssen jetzt erst mal eine Pause machen.» Ob sein Plan überhaupt zulässig ist, dürfte erneut zu reden geben.

Immerhin bestätigte Mazzoleni, dass er umgehend dafür sorgen will, dass Nicole Ruch die Unterschriftsberechtigung entzogen und er selber spätestens Ende Jahr sein Amt abgeben werde.

Das mit dem Entzug der Unterschrift wurde nicht immer so gehalten: Nach dem Rücktritt des langjährigen Leiterpaars Lienhard sowie des schillernden Immobilienhändlers Pascal Reinhard konnten diese während 3 beziehungsweise 9 Monaten weiterhin Honorarauszahlungen und Spesenrechnungen visieren.

Delegierte rufen: «So geht es nicht!» Und: «Das ist illegal!»

Im Hotel Arte in Olten hatte die umstrittene Tierschutz-Präsidentin Ruch an diesem Samstag mit allen Mitteln versucht, ihre Abwahl zu verhindern. Aber sehen Sie selbst:

Kurz vor 14 Uhr: Mitarbeiterinnen des Zentralverbands, flankiert von Sicherheitsleuten, registrieren die Delegierten. Medienschaffende dürfen nicht in die Nähe des Saales, durch einen Hintereingang erscheint, ganz in Schwarz, Nicole Ruch.

Trotz verschlossener Tür sickern zahlreiche Details zum Sitzungskrimi nach draussen. Eine Stunde nach Beginn kommt es zu tumultartigen Szenen. «Nein, nein, nein!» – «So geht es nicht!» – «Das ist illegal», rufen Dutzende Delegierte.

Mehrere Sektionen hatten verlangt, dass die Präsidentin die Versammlung nicht selber leitet; sie forderten, dass die 16 Anträge auf Abwahl der Präsidentin gleich zu Beginn traktandiert werden: «Es geht jetzt nicht um persönliche Interessen, es geht um unsere Glaubwürdigkeit!»

Doch die STS-Präsidentin weigert sich zur Überraschung anwesender Juristen, die Ordnungsanträge zuzulassen. «Ich habe mich mehrere Tage lang vorbereitet», erklärt sie, «ich mache jetzt weiter und verweise Sie ansonsten auf den Rechtsweg.» Nach Buh-Rufen verlässt die Credit-Suisse-Bankerin im Beisein ihrer Anwälte den Saal. Pause. Empörte Delegierte geben Fernseh-Interviews.

Damit erreicht die Krise im Schweizer Tierschutz einen Tiefpunkt. Seit Frühling 2022 hatten vier Vorstandsmitglieder intern versucht, Transparenz beim Umgang mit Spendengeldern und geerbten Häusern einzufordern.

Gericht: Präsidentin muss Anträge traktandieren – sonst droht Strafe

Seit Mai letzten Jahres häuften sich dann die Schlagzeilen: Horrende Spesenbezüge, Luxussanierungen, Kündigungswellen, Streit im Vorstand und eine Strafanzeige gegen Vorstandsmitglieder veranlassten die Zewo, den Verein auf die schwarze Liste zu setzen. Trotz heftiger Kritik – selbst der Vizepräsident und ihr Ziehvater forderten Ruch öffentlich zum Rücktritt auf – klammerte sich die für vier Jahre gewählte Bielerin an ihr Amt.

Sie verschob die Delegiertenversammlung und liess Anträge für ihre Abwahl unbeantwortet, bis vor zehn Tagen das Basler Zivilgericht eine superprovisorische Verfügung erliess: Alle Anträge müssen, unter Strafandrohung, traktandiert werden.

Was treibt Nicole Ruch an? Warum klammert sie sich seit Monaten an ihr Amt? Ist es Herzblut für Tiere, wie die Besitzerin von Windhunden und Möpsen sagt? Will sie nach über zehn Jahren im Vorstand eigene Fehler vertuschen oder aufräumen? Ist ihre berufliche Karriere als Anlageberaterin bei der Credit Suisse zu Ende, nachdem sie die Teamleitung abgeben musste? Und was ist los mit ihrer Bieler Sektion, wo sie Geschäftsführerin und Vorstandsmitglied in Personalunion ist, sekundiert von einem Kollegen – und alle anderen Leitungsposten vakant sind?

In Olten setzt sich Nicole Ruch nach der Pause dank einem Kompromiss zunächst durch: Sie darf Präsidentin bleiben, die Sitzung selber leiten, über die Ordnungsanträge wird später abgestimmt.

Sie kann wie erhofft beim Tätigkeitsbericht zehn Minuten lang erklären, was sie in den letzten 27 Monaten erreicht hat, nennt erneut den Relaunch der Website sowie erste Reformansätze und sagt: «Ich wollte nichts überstürzen, wollte Schritt für Schritt vorgehen.» Sie wirkt wieder gefasst, bezeichnet Vorwürfe gegen sie als «falsch und ungeheuerlich». Keine Frage: Sie kämpft wie eine Löwin um ihr Ehrenamt, für das sie sich monatlich Spesen bis zu 5250 Franken auszahlen liess.

Die Versammlung nimmt ihren Lauf. Diskussionen gibt es zur Jahresrechnung, die nur mit minimalen Angaben publiziert und eingeschränkt revidiert wird. Die Delegierten genehmigen die Rechnung knapp, dann verweigern sie die Décharge deutlich mit 131 Nein zu 49 Ja bei 9 Enthaltungen: Der Vorstand kann für allfällige Verfehlungen weiterhin haftbar gemacht werden. Ruch ist es trotz viel Redezeit nicht gelungen, bei den 202 Delegierten Vertrauen zu schaffen.

Kurz nach 19 Uhr, gut fünf Stunden nach Start der DV, kommt es zur Abstimmung, welche die Präsidentin so sehr gescheut hat. Zwar hat Nicole Ruch vier Stunden zuvor versprochen, dass sie bei diesem Traktandum in Ausstand trete und den Saal verlasse.

Doch sie tut es nicht, erteilt weiterhin das Wort und nimmt ein letztes Mal Einfluss, erfolglos. 108 Personen stimmen für ihre Abwahl, 82 sind dagegen, 5 enthalten sich. Sie bleibt vorne auf ihrem Präsidentinnenstuhl sitzen, als wäre nichts passiert. Später lässt sie ihren PR-Berater ausrichten, sie bedaure, «dass die Mehrheit der Delegierten eine neue Führung» wolle: «Ich unterstütze den STS weiterhin.»

Anwalt Mazzoleni wird Präsident – Vorstand bleibt gespalten

Dann geht es Schlag auf Schlag: Vize Piero Mazzoleni wird zum Präsidenten gewählt, die beiden schärfsten Kritiker, Nationalrätin Martina Munz und Agronom Michel Roux, werden aus dem Vorstand verbannt – und geben sich gelassen. Für sie sei es zentral gewesen, einen Neuanfang ohne Nicole Ruch zu ermöglichen, sagt Munz: «Der STS muss wieder Vertrauen herstellen und sich für die Kernanliegen, den Tierschutz, engagieren.»

Ob dies dem neuen Vorstand gelingt, muss sich weisen. Er besteht jetzt etwa je zur Hälfte aus alten Mitkämpfern Ruchs und Neumitgliedern, darunter der prominente Rechtsprofessor Peter V. Kunz. Auch Ex-Schönheitskönigin Lolita Morena wurde nach 16 Amtsjahren erneut bestätigt.

Piero Mazzoleni wiederum, der eigentlich nur als Übergangspräsident gewählt werden sollte, vergass gegen Ende der hektischen Versammlung die Abstimmung über zwei wichtige Anträge: jenen für eine ausserordentliche DV im Sommer, an welcher er wieder abgelöst werden sollte; und jenen zur Einsetzung einer Findungskommission unter Leitung des langjährigen Verbandsjuristen Lukas Berger, der nach professionellen Kriterien einen neuen Präsidenten oder eine neue Präsidentin ausfindig machen sollte.

Im Gespräch mit CH Media erneuerte der Tessiner Anwalt gestern  sein Versprechen, er werde «spätestens bis Ende 2024 zurücktreten und die Probleme im Finanz- und Immobilienbereich untersuchen». Seine Aufgabe wird nicht einfach, der Verband ist in zwei Lager gespalten, und die Geschäftsstelle besteht nach vielen freiwilligen Abgängen und einzelnen Entlassungen  grossmehrheitlich aus Ruch-Freundinnen.

So hinterlässt der monatelange Konflikt neben einem Spendeneinbruch bei den Sektionen tiefe Narben und viele Enttäuschte. Die Mehrheit der Delegierten verlässt das Kongresshotel kurz nach 21 Uhr und verzichtet auf das Abendessen, das im Saal Corbusier während über drei Stunden vorgewärmt worden war.