
«Selbstversorgung statt Regulierung von aussen»: Giorgio Behr zum Schweizer Strombabkommen
Die Schweiz steht in der Energiepolitik an einem Wendepunkt: Zwar erzeugen wir rund 60 Terawattstunden (TWh) sauberen Strom jährlich, doch Mobilität und Wärme beruhen weiterhin auf 120 TWh fossiler Energie – deren Ersatz benötigt dank Effizienzgewinnen «nur» 40 TWh zusätzlichen Strom. Hinzu kommen der steigende Bedarf für Digitalisierung, Bevölkerungswachstum und der Ersatz der Kernenergie (23 TWh). Die zentrale Frage lautet: Wie kann die Schweiz künftig, insbesondere im Winter, genug Strom haben – bezahlbar, klimafreundlich, zuverlässig und ohne neue Abhängigkeiten vom Ausland?
Dieser Frage geht Giorgio Behr, Unternehmer der BBC Group im Gastbeitrag nach.
Strommangel im Winter – ein strukturelles Problem
Unser Hauptproblem ist die saisonale Schieflage. Der geplante Ausbau der Erneuerbaren auf 45 TWh mit Fokus auf Photovoltaik führt im Sommer zu gewaltigen Überschüssen, die wir nicht speichern können. Im Hochwinter dagegen entsteht selbst unter den optimistischen Szenarien des Bundesamts für Energie eine Versorgungslücke von 15 bis 20 TWh.
Diese Winterlücke soll durch Stromimporte geschlossen werden – ein riskantes Unterfangen. Die meisten Nachbarländer haben im Winter selbst zu wenig Strom. Deutschland will mehr als 30 grosse Backup-Gaskraftwerke bauen, um Mangellagen zu vermeiden. Die Vorstellung, dass wir im Winter einfach Strom aus der EU beziehen können, ist trügerisch. Im Ernstfall wird jedes Land zuerst die eigene Versorgung sichern.
Zudem hilft importierter Strom aus Kohle-, Öl- oder Gaskraftwerken dem Klima nicht. Ein Stromabkommen mit der EU würde weder die Versorgung sichern noch zur Reduktion des CO₂-Ausstosses beitragen. Die Schweiz müsste ihre Netze nach EU-Regeln betreiben, hätte aber keine Mitsprache, wenn es um Prioritäten in Mangellagen ginge. Die Verantwortung bliebe national, die Kontrolle läge ausserhalb der Schweiz.
Fehlanreize im Strommarkt
Die heutige Förderpolitik verschärft die strukturellen Probleme. Subventionen fliessen bevorzugt in Solaranlagen, die im Sommer viel, im Winter aber wenig Strom liefern. Die Folgekosten für Speicher, Netzausbauten und Reservekraftwerke bleiben unberücksichtigt, ebenso die Kosten der Entsorgung nach nur 25 Jahren von Solar- und Windanlagen. Gas- und Kernkraftwerke, die über 40 respektive 60 Jahre eine stabile Versorgung bieten, erhalten keine Förderung – sie müssen ihre Entsorgungskosten selbst vorfinanzieren.
Da Strom sich nur aufwändig speichern lässt, müssen Einspeisung und Verbrauch jederzeit im Gleichgewicht sein. Der Strommarkt funktioniert nur, wenn immer genug Strom verfügbar ist. Bei Knappheit steigen die Preise stark an, bei Überangebot fallen sie ins Negative – mit teuren Folgen für die Netzstabilisierung, die am Ende die Kunden tragen.
So entsteht ein paradoxes System: zu viel Solarstrom treibt die Preise, statt sie zu senken. So musste die CKW wegen eines Überangebots an Solarstrom ihre Preise erhöhen. Denn gleichzeitig stiegen die Kosten der Netzstabilisierung. Was einst als marktwirtschaftliches Effizienzmodell gedacht war, ist heute ein teures Subventionssystem mit hohen Risiken.
Das EU-Stromabkommen – mehr Verpflichtung als Nutzen
Mangels Willen zur eigenen Lösung für die Winterstromlücke, soll ein Stromabkommen mit der EU den Zugang zum Binnenmarkt sichern. Doch es verpflichtet die Schweiz, grosse Teile des EU-Energierechts zu übernehmen – ohne Mitbestimmung. Das Abkommen bringt Pflichten, aber keine Garantien. Im Krisenfall wird jedes EU-Land die eigene Versorgung priorisieren. Zudem legt es verbindliche Ziele für erneuerbare statt CO₂-freie Energie fest und beeinflusst so den Energiemix der Schweiz.

Bild: Sandro Büchler
Besonders heikel sind die Wasserkraftwerke – das Rückgrat unserer Stromversorgung. Zwar werden sie im Abkommen nicht speziell erwähnt. Doch nach gängiger EU-Praxis gilt alles, was nicht ausdrücklich ausgenommen ist, als binnenmarktrelevant. Ohne ausdrückliche Schutzklausel ist davon auszugehen, dass Brüssel oder der Europäische Gerichtshof spätestens im Streitfall Kompetenzen anstelle unserer Kantone beanspruchen werden.
Versorgungssicherheit braucht Eigenständigkeit
Das Stromabkommen schafft keine sichere zusätzliche Energieversorgung, sondern neue Abhängigkeiten. Die Schweiz braucht eine Politik, die Eigenproduktion und Versorgungssicherheit stärkt – nicht noch mehr Regulierung aus Brüssel.
Selbst nach dem Ausbau der Erneuerbaren und der Wasserkraft bleibt eine Winterlücke von 15 bis 20 TWh. Diese kann nur mit steuerbaren Kapazitäten geschlossen werden; zunächst durch rasch zuschaltbare Gaskraftwerke, später in Kombination mit modernen Kernkraftlösungen. Mit vor Ort gelagerten Brennstoffreserven für mehrere Jahre lässt sich die Versorgung zusätzlich sichern.
Was die Schweiz braucht, ist eine technologieoffene, pragmatische Energiepolitik: mehr Winterstrom statt Sommerüberschüsse, mehr Eigenproduktion statt Abhängigkeit, physikalische Realität, statt politischer Symbolik. Nur so bleibt Strom bezahlbar und die Versorgung auch im Winter gesichert. Kooperation mit der EU ist sinnvoll – Unterordnung nicht. Eine eigenständige, nicht «winterstrombedürftige» Schweiz, die innert Sekunden 8 Gigawatt Leistung aus Speicherkraftwerken bereitstellen kann, bleibt in jedem Stromnetz ein geschätzter Partner.




