
Wo das Schulsystem scheitert: Diese Lehrerin hat einen Raum für Kinder geschaffen, die durchs Raster fallen
Immer mehr Kinder und Jugendliche verweigern sich dem herkömmlichen Schulsystem. Der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer schlug diese Woche Alarm: Absentismus – also das wiederholte, bewusste Fernbleiben vom Unterricht vor allem wegen Schulangst – nehme zu. Die Schulen müssten mit klaren Regeln und besserer Früherkennung gegensteuern.
Auch bei meiner Tochter und mir begann es schleichend. Schon in der Primarschule war nicht alles ideal, doch sie fand im Schulsozialarbeiter eine Vertrauensperson, die sie regelmässig aufsuchte. Mit dem Wechsel in die Bezirksschule spitzte sich die Situation zu. Der Schulalltag wurde für sie immer schwieriger zu bewältigen. Gemeinsam mit der Schulleitung suchten wir nach Lösungen. Doch weder reduzierter Unterricht, Klassen- und dann auch noch ein Schulwechsel brachten eine nachhaltige Besserung. Irgendwann war klar: Es geht nicht mehr weiter. Doch was nun?
Sie privat zu Hause zu schulen, gemeinhin Homeschooling genannt, war ein Gedanke, der mir nicht ganz fremd war. Aber als alleinerziehende, berufstätige Mutter? Unmöglich, dachte ich. Nie werde ich den Moment vergessen, wie ich auf der Baldegg ob Baden dem Wald entlang in Richtung «Glück-Hof» ging, unsicher, was ich vom dort stattfindenden Infoanlass übers Homeschooling überhaupt erwartete. Das war ja für uns sowieso kaum umsetzbar?
An jenem Abend begegnete ich Sabrina Börjesson. Sie berichtete sachlich, aber warmherzig über ihren Weg – kein Bashing der Volksschule, kein missionarischer Eifer. Stattdessen stellte sie die private Schulung zu Hause ganz einfach als weiteren möglichen Bildungsweg im Aargau vor. Sie sprach über ihre Kurse und die Lernoase, die sie 2021 gegründet hat.
Die 38-jährige Lehrerin vermittelte nicht nur ihr Wissen, sondern auch Vertrauen. Und mir wurde klar: Wir, meine Tochter und ich, können das schaffen. Ein paar Wochen später nahmen wir ein erstes Mal an einem ihrer Kurse teil. Dort lernten wir den Lehrplan 21 vertieft kennen, wie man eine Grobjahresplanung erstellt, später wie ein Lernportfolio aufgebaut wird und was beim Besuch der kantonalen Schulaufsicht zu beachten ist. Dabei bezog ich stets meine Tochter mit ein, denn: Wenn wir diesen Weg gehen, dann musste der Teenager mitziehen.
Ein schwer behindertes Kind – der Auslöser für ihren neuen Weg
Sabrina Börjesson ist mit dem hiesigen Bildungssystem bestens vertraut. Sie war über zehn Jahre Primarlehrerin im Aargau. Sie war Teil von Steuergruppen, setzte sich für inklusive Schulmodelle ein und engagierte sich intensiv für die Weiterentwicklung der Volksschule. Der Antrieb für ihren heutigen Weg kam mit der Geburt ihrer Tochter vor zehn Jahren, die mit einer schweren Beeinträchtigung zur Welt kam. Von Beginn weg war klar, dass sie nie ein normales Leben führen geschweige denn eines Tages die Volksschule besuchen würde.

Bild: Severin Bigler
Für sie baute Börjesson zu Hause ein individuelles Betreuungssystem auf, beantragte frühzeitig persönliche Assistenz. Sie erkannte, wie viel Eigeninitiative nötig ist, um in Erfahrung zu bringen, welche Optionen Eltern überhaupt haben – auch in Bezug auf private Schulung. Die inzwischen zweifache Mutter begann, Vorträge zu geben und andere zu beraten. Ihr Angebot stiess auf wachsendes Interesse.
So entstand die Lernoase: Zunächst fanden die Treffen in ihrem Zuhause in Rüfenach statt, später bezog sie einen hellen Raum direkt beim Bahnhof Siggenthal-Würenlingen. Inzwischen öffnet sie die Lernoase an drei Tagen pro Woche, jeweils mit Kindern und Jugendlichen im Homeschooling aus Unter-, Mittel- oder Oberstufe. Fix ist nur die Zeit: 9 bis 16.15 Uhr.
Auch zwei Betreuerinnen und einen Lehrer hat sie mit an Bord geholt. Gelernt wird je nach Wetter drinnen oder draussen, beim Kochen, Schreiben oder Präsentieren. «Es geht um Lernfreude und darum, Kinder und Jugendliche wieder in Kontakt mit sich selbst zu bringen», sagt Börjesson.
Von Anfang an suchten sie nicht nur von Homeschooling überzeugte Eltern auf. Zunehmend meldeten sich auch Eltern, deren Kinder sich dem Schulsystem verweigerten. Kinder, die weder in ein Therapieheim noch in eine Privatschule passen, die man sich ja auch noch leisten können muss. Trotz der gemachten Erfahrungen der letzten vier Jahre will Sabrina Börjesson ihre Lernoase dennoch nicht als Auffangbecken für aus dem System gefallene Kinder verstehen: «Sie ist kein Ersatz für Schule», bekräftigt sie. «Der Unterricht der Kinder, die hierherkommen, liegt vollständig in der Verantwortung der Eltern.»
Lange lebte ihr Angebot nur von Mundpropaganda und ihren Vorträgen. Doch sie weiss, wie wichtig ihr Angebot für viele geworden ist. Seit Kurzem steht selbstbewusst in grossen Lettern «Sabrina Börjesson» und «Lernoase» auf den Scheiben an der Landstrasse. Sie will Mut machen, neue Wege zu beschreiten und dabei als gutes Beispiel vorangehen: «Ich will einen Alltag, von dem ich mich nicht erholen muss.» Es erfüllt sie, Kindern und Jugendlichen zu zeigen, wie Lernen wieder Freude machen kann.

Bild: Severin Bigler
Was sie geschaffen hat, wurde für uns zum rettenden Anker und gab mir die Hoffnung zurück, dass der richtige Weg nicht immer der altbekannte sein muss. Dank der Lernoase kam mein Kind zumindest einen Tag pro Woche raus und musste mit anderen Menschen interagieren. Das war zu Beginn, nach einer fast zweijährigen Leidenszeit, alles andere als einfach. Zu Hause gaben wir dem Alltag Struktur, richteten feste Lernzeiten ein und je länger je mehr konnte ich darauf vertrauen, dass meine Tochter ihre von mir vorbereiteten Aufgaben erledigte. Es gab Zweifel, Rückschläge – und doch wuchs mit der Zeit das Gefühl: Wir sind wieder handlungsfähig.
Meine Tochter hat inzwischen nicht nur ihre Lebensfreude wiedergefunden, sondern auch ein berufliches Ziel. Sie hat die Volksschule offiziell abgeschlossen und bereitet sich nun auf die internationale Matur vor – ebenfalls im Homeschooling. Ich bin immer noch gefordert, weiss aber nun: Es gibt immer einen Weg, auch wenn jetzt unserer sicher nicht für alle der richtige wäre.
Mein Ziel, dass meine Tochter wieder Freude am Leben und eine Perspektive hat, haben wir erreicht. Möglich wurde das dank Menschen wie Sabrina Börjesson, die sich trauen, andere Wege zu gehen – und andere dabei zu begleiten.
Bildungswege im Kanton Aargau
Privater Unterricht zu Hause ist im Aargau erlaubt, als einer der wenigen Kantone überhaupt. Zumeist übernimmt dabei ein Elternteil die Verantwortung für den Unterricht – bei der kantonalen Schulaufsicht müssen eine Grobjahresplanung und Jahresplanungen für jedes Fach eingereicht werden, einmal jährlich kommt die kantonale Schulaufsicht zur Kontrolle vorbei. Sabrina Börjesson unterstützt Familien in diesem Prozess – mit Kursen, Vorträgen und individueller Beratung. Am 9. September bietet sie einen Gratis-Infoabend an: «Bildungswege im Kanton Aargau». (cla)