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Immer mehr Schwerverletzte und Tote: Das sind die Gefahren und Risiken beim E-Bike fahren 

Jedes zweite neu verkaufte Velo in der Schweiz ist ein E-Bike. Die Verkaufszahlen erreichen Rekordmarken, die Unfälle mit Schwerverletzten auch.

Die Dunkelheit umschlingt die Häuser entlang des Zürichsees. Es ist Freitagabend, 6. Januar, 20.30 Uhr. Marina* hat alles dabei: Geldbeutel, Schlüssel, Akku fürs E-Bike. Wirklich alles? Nein. «Der Helm, wo ist der Helm?». Sie könnte auf dem schmalen Weg, der ums Haus herum zum Velokeller führt, umdrehen. Aber sie tut es nicht. Zeitdruck.

Also steigt die Bündnerin auf ihr E-Velo, das 45 Kilometer pro Stunde schaff. Der Januarwind bläst ihr ins Gesicht als sie mit ihrem Stromer den Berg hinauf braust. Sie hat sich mit einem Freund im Kletterzentrum Wädenswil verabredet. Kurz vor 23 Uhr macht sie sich auf den Rückweg. Sie fährt gemütlich los. Dann geht es die Strasse steil runter, durch den Wald, Richtung See. Der Strassenbelag ist trocken. Es ist nicht mehr weit bis nach Hause. Dann der Kreisel, ein Parkplatz. Erinnerungslücke.

Die 35-jährige Sozialpädagogin verunfallt schwer. Im Bericht des Unispitals steht: Unbehelmter Sturz ohne Kollision. Marina wird von zwei Passanten aufgefunden und erstversorgt. Die Wucht des Aufpralls hat eine Furche ins Gras gezogen. Die Kleider zerrissen. Marina ist bewusstlos. Diagnose: Schweres Schädel-Hirn-Trauma, Schlüsselbeinbruch, Wirbelsäulenverletzung, Lungenquetschung, gebrochene Rippe, Schenkelhalsfraktur. Dazu Verletzungen der inneren Organe wie Milz- und Leberriss.

Jedes zweite neue Velo ist ein E-Bike

E-Bikes boomen. Der geringere Kraftaufwand als bei herkömmlichen Velos verhilft auch älteren Menschen zu mehr Mobilität. Die Verkaufszahlen sind dementsprechend angestiegen: Allein 2022 wurden 218 00 Bikes verkauft, das sind 17 Prozent mehr als im Vorjahr. Bald ist jedes zweite neue Velo ein E-Bike. Analog zu den Verkäufen nehmen aber auch die schweren Unfälle zu: 583 Personen haben sich im letzten Jahr laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung BFU bei einem E-Bike-Unfall schwer verletzt, davon sind 23 Personen verstorben. 2021 verletzten sich 548 E-Biker schwer, 17 Personen verloren ihr Leben. Vor der Pandemie 2019 verunglückten 366 Personen schwer und 11 wurden getötet. Gemäss der BFU steigt das Risiko mit dem E-Bike tödlich zu verunglücken mit zunehmendem Alter. Zwei von drei Todesopfern sind 65-jährig oder älter.

Nebst den Strassenunfällen mit E-Velos sind auch die Mountainbike-Unfälle im Gelände steigend. Gemäss Hochrechnungen der Beratungsstelle für Unfallverhütung BFU ereigneten sich 2020 rund 19 000 Mountainbike Unfälle. «Wie viele davon auf E-Mountainbikes zurückzuführen sind, ist noch nicht ausgewiesen», sagt Christoph Leibundgut von der Beratungsstelle für Unfallverhütung.

So schütze ich mich vor E-Bike-Unfällen

Mehr als die Hälfte der polizeilich registrierten schweren E-Bike-Unfälle im Strassenverkehr werden als Selbstunfälle registriert. Christoph Leibundgut vom BFU erklärt, wie man sich vor Unfällen schützen kann: «Das Tragen eines Helmes ist bei schnellen E-Bikes gesetzlich vorgeschrieben, es ist aber auch bei Modellen bis 25 km/h absolut sinnvoll. Und weil mit zunehmendem Tempo auch der Bremsweg deutlich länger wird, gilt es defensiv zu fahren.» Nicht selten komme es in Kreiseln und Kreuzungen zu Unfällen. «Oft werden Vortrittsregeln missachtet oder E-Bikes werden von Autofahrern übersehen weil die Geschwindigkeit unterschätzt wird.» Leibundgut empfiehlt, auffällige Kleidung wie Leuchtwesten mit reflektierenden Materialien zu tragen.

Die technischen Tücken des E-Bikes

Eine Zunahme von E-Bike-Unfällen stellt auch Richard Glaab, Traumatologe am Kantonsspital Aarau fest. Nebst seiner Arbeit als Chirurg am KSA ist er im Medical Team von Swiss Cycling. Zum Anstieg der schweren Unfälle und E-Bike-Toten sagt er: «Mit dem E-Velo oder E-Mountainbike gelangen weniger erfahrene Leute an Stellen, wo sie sonst nicht hinkommen, das stellt sie vor neue Herausforderungen.» Ein E-Bike habe rund 25 Kilo Gewicht und einen tieferen Schwerpunkt, so schiebe das Bike auch mehr vorwärts. Ein Wurzelstock oder ein Trottoir-Rand könne so zu einem gefährlichen Hindernis werden. Mit herkömmlichen Velos sei die Geschwindigkeit kontrollierbarer. «Zudem sind die E-Velofahrer wenig geschützt – bestenfalls haben sie einen Helm auf», so der Traumatologe.

Der Unfall und seine Folgen

Gabriella Künig ist Neurologin und Leiterin der Neurologischen Rehabilitation an der Rehaklinik in Bellikon. Bei ihr landen die schweren Fälle, auch Marina wurde drei Wochen nach dem Aufenthalt im Unispital ins aargauische Bellikon verlegt. Die Neurologin trifft seit ein paar Jahren vermehrt auf verunfalle E-Biker mit Kopfverletzungen: «Wie bei anderen Unfällen, sind auch bei E-Bike-Unfällen Hirnverletzungen oft mit Knochenbrüchen und Verletzungen innerer Organe verbunden.» Die Hirnverletzungen bei E-Bike-Unfällen unterscheiden sich nicht von Verletzungen durch andere Unfälle. «Die Folgen einer Hirnverletzungen hängen vom Ausmass und vom Ort der Gewebeschädigung ab. Sind Regionen für Bewegungs- oder Sprachsteuerung betroffen, kommt es zu Lähmungen oder Sprachstörungen. Häufig sind Einschränkungen von kognitiven Fähigkeiten wie Gedächtnis oder Aufmerksamkeit. Nicht selten sind das sogar die einzigen Symptome», so Künig.

Bei Marinas Aufprall kam es im Hirn zu vielen kleinen Einblutungen, die weder Lähmungen noch Sprachstörungen verursachten, jedoch Einschränkungen von Gedächtnis und Aufmerksamkeit zur Folge hatten. Für den Unfall ist ihr eine Erinnerungslücke geblieben. Neurologin Gabriella Künig betont, wie wichtig es sei, einen Helm zu tragen. «Sobald das Gehirn schwer verletzt ist, ist der Weg zurück ins Leben oft lang und steinig.»

«Das Fahren ohne Helm war ein Fehler»

Auch Marinas Weg zurück in die Normalität ist herausfordernd. Die Sozialpädagogin wurde nach drei Monaten aus der Reha entlassen. Noch immer ermüden ihre Augen und ihr Gehirn sehr schnell, ist das Bein nach dem Oberschenkelhalsbruch nicht voll belastbar. Und auch die Seele ist tief verletzt. Eine Zugfahrt kann für die 35-Jährige zur echten Belastungsprobe werden: Viele Menschen, der Zug, die Treppen – Marinas Weg in die Normalität wird noch dauern. «Ich werde versuchen, langsam in mein Leben und auch an meinen Arbeitsplatz zurückzukehren.» Die Integration zurück in den Beruf sei aber nur ein Aspekt. «Irgendwann muss ich den Unfall aufarbeiten. Dann werde ich die Passanten besuchen, die mich nach dem Unfall entdeckt und mir das Leben gerettet haben. Noch bin ich nicht so weit.» Und ob sie wieder aufs E-Bike steigen wird? Bestimmt. Dann allerdings mit Helm: «Das Fahren ohne Helm war ein klarer Fehler und den beschönige ich auch nicht.»

*Name geändert