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Wenn Fremdes fremd bleibt: Stadt, Land und Vorurteil

Unsere Autorin kam mit mehr als bloss 30 Zügelkisten ins Glarnerland. Da waren auch ein paar Vorurteile gegenüber der Landbevölkerung dabei. Jetzt zieht die ehemalige Städterin Bilanz, welche Klischees sich bestätigt haben – und welche nicht.

Die Glut vom Grill war längst erloschen. Ich wollte gerade das Dessert servieren, als mich die Frage einer Freundin aus Basel, die zu Besuch war, eiskalt erwischte: Ob ich Vorurteile gegenüber der Landbevölkerung gehabt hätte, als ich vor zwei Jahren ins Glarnerland gezogen sei. Und wenn ja, welche, und ob sich diese bestätigt hätten.

Gerne hätte ich mich als weltoffenster Gutmensch inszeniert und mit «Nein» geantwortet. Aber das wäre eine glatte Lüge gewesen. Vorurteile zu haben, liegt in der Natur des Menschen. Da kann man noch so tolerant sein ­– frei von Stereotypen ist niemand. Menschen malen ihre Vorstellung der Welt unter dem Einfluss von Erziehung, Bildung, ihrem soziokulturellen Umfeld und ihrer Lebenserfahrung. Wir tendieren dazu, Fremdes zu kategorisieren, aus Selbstschutz. Das rührt aus einer Zeit, als man sich noch mit dem Faustkeil verkloppte. Damals bedeutete alles, was fremd war: Gefahr. Wer kennt es nicht, das Sprichwort: «Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.»

Also antwortete ich mit «Ja». Ich kam hier rauf mit der Vorstellung, die meisten seien entweder Bauern, Bergführerinnen oder Förster. Okay, so extrem war es nicht, aber es ging in die Richtung. Ich dachte auch, dass so ziemlich alle gegen Klimaschutz und viele gegen Ausländer stimmen. Und dass die meisten keinen Stil haben.

So über den Daumen gepeilt haben sich zehn Prozent meiner Vorurteile bestätigt. Der Rest war Quatsch. In meinem Dorf leben, logisch, ein paar Bauern, sonst aber könnte die Vielfalt nicht grösser und spannender sein: Zu den Nachbarn gehört ein ehemaliger Kriminalpolizist, der im letzten Jahrhundert so manch Verbrecher hinter Gitter brachte. Ein Lichttechniker, der in den 1990ern mit Nirvana auf Tour gewesen war. Eine Neophytenjägerin, ein Fallschirmjäger, ein Agrarmeteorologe. Nur ein paar Beispiele.

Letzten Winter besuchte ich einen Kleiderflohmarkt in Ennenda und kam mit den coolsten Teilen und den Nummern von noch cooleren Frauen im Handy nach Hause. Und schliesslich bin ich im Frühling dem Verein Klima Glarus beigetreten, der sich für klimafreundliche Ideen im Kanton einsetzt. Der Weg ist steinig, aber das Interesse wächst rasant, so wie die Gurken in meinem Garten.

Für Vorurteile kann der Mensch nichts. Aber man sollte stets versuchen, sie abzubauen, zu relativieren. Sich dem vermeintlich Fremden stellen. Das wünschte ich auch jenen Wenigen im Dorf, die mich «Städterin» noch immer argwöhnisch aus der Ferne beäugen. Und jenen ebenso Wenigen, die immer noch das N-Wort in den Mund nehmen. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Weil ich hoffte – entgegen meiner Vorurteile–, in einem Kanton, dessen Textilindustrie im 19. Jahrhundert viele Arbeiter von überall her anzog, eine hohe Toleranz gegenüber Ausländern vorzufinden. In den allermeisten Fällen ist dem ja auch so. Ausnahmen gibt’s leider immer. Das passiert eben, wenn Vorurteile nicht abgebaut werden. Wenn Fremdes fremd bleibt. Eine unangenehme Wahrheit.